Über kleine und große Geschichten
Wittenberg/MZ. - Die Stimmung gehoben, die Reden launig, die Erwartungen der Gäste schwebend zwischen Gegenwart und "weißt du noch..." - es ist diese ganz besondere Atmosphäre, die ein Klassentreffen ausmacht. Und wenn die Erlangung des Reifezeugnisses gar der Vergoldung entgegengeht, besteht allemal Grund zum Feiern.
"Liebe 62b2 / 2005" - werden die alten Mitschüler von Günther Specht im Piesteritzer Elbebogen begrüßt. Denn seit sie als Klasse 12b2 / 1955 der Lucas-Cranach-Oberschule mit dem Abitur in der Hand die Schullaufbahn beendeten, sind runde 50 Jahre vergangen - persönlich und politisch ereignisreiche Jahre. Als "Erfinder der Bewegung Go-West", wird Eduard Friedrich begrüßt, der Sportstudent, der noch vor dem Mauerbau als erster sein Glück im Westen suchte; zur "Stickstoff-Connection" zählt Joachim Kaatz, einer derjenigen, die im heimischen Piesteritz ihren beruflichen Werdegang gestalteten.
Pointiert und liebevoll spöttisch charakterisiert Günther Specht Lebensläufe, erzählt kleine Geschichten, die verwoben sind mit der deutschen Geschichte: Teilung, Mauerbau, Wiedervereinigung haben ihr Leben geprägt. Specht selbst, Physikprofessor in Hamburg, hat es auf abenteuerlichen Wegen in die Hansestadt verschlagen. Auf dem Luftweg flüchteten er und seine Familie 1966 von Bratislava via Wien in die Bundesrepublik. Bei der lang vorbereiteten Flucht geholfen hatte der einstige Schulkamerad und beste Freund Eduard Friedrich.
"Die Zeit, in der wir nur Fernschach miteinander spielen konnten, war damit beendet", so Specht. Erstmals hatte sich die in alle Winde zerstreute Klasse 1985 am Müggelsee getroffen, damit auch die Westler, mit einem Tagesvisum ausgestattet, teilnehmen konnten. Insofern müsse die deutsche Geschichte umgeschrieben werden, findet Günther Specht, denn das Treffen belege, "die Wurzeln der deutschen Einheit lagen in den Händen der Klasse 12b2 der Lucas-Cranach-Oberschule."
Was heute so humorvoll geschildert wird, hat indes Kraft und jede Menge Diskussionen gekostet. "Die Teilung hat durchaus zu Konfrontationen geführt", weiß Hans Semlow, Wittenberger Organisator des Jubeltreffens, "1985 gab es schon einige harte politische Auseinandersetzungen." Allein die nach eigenen Aussagen "verrückte Schülerschar" war einander immer wichtig genug, um streitend zueinander zu finden. Die regelmäßigen Wiedersehensfeiern im Zwei-Jahres-Rhythmus hätten den Zusammenhalt weiter gefestigt, ist Hans Semlow überzeugt.
Acht Mal sind sie seit jenem legendären Treffen 1985 zusammengekommen - begegnet sind sich manche aber immer wieder zu unterschiedlichsten Gelegenheiten. Eduard Friedrich und Henner Huhle sahen sich 1972 bei den Olympischen Spielen in München: der eine als Bundestrainer für die Geräteturner, der andere in gleicher Funktion für die Volleyballmannschaft. Die Basis für den beruflichen Erfolg legte das Sportstudium - bei dem einen in Köln, beim anderen in Leipzig. Hans Semlow, als Diplomsportlehrer und langjähriger Förderer heimischer Talente ebenfalls Teil der starken Sporttruppe innerhalb der Klasse, hat inzwischen eine neue Aufgabe: Aufgrund der gelungenen Organisation des Klassentreffens haben ihn die ehemaligen Mitschüler in diesem Amt bestätigt - auf Lebenszeit. Denn schließlich wollen sie in zwei Jahren alle wieder zusammen kommen. Diejenigen, denen Wittenberg Heimat geblieben ist ebenso wie diejenigen, die fortgingen. Zur Festigung des Zusammenhalts.