Porträt Porträt: Im Himmel der Akten
bitterfeld/MZ. - An ihre ersten Wochen in einem Archiv kann sie sich noch genau erinnern. 1973 war das. Jetzt kann sie die Tage, die sie noch beruflich in einem Archiv verbringen wird, an den Fingern einer Hand abzählen. Am Freitag nämlich ist ihr letzter Arbeitstag im Bitterfeld-Wolfener Stadtarchiv. Nach dem verbleibenden Resturlaub ist es dann am 15. Juni endgültig: Auf Grundlage der Altersteilzeit verabschiedet sich Eva-Maria Engel in den Ruhestand.
Begonnen im Betriebsarchiv
Begonnen hat alles 1973 im damaligen Chemiekombinat Bitterfeld (CKB). Sie hatte wegen der Geburt ihrer beiden Kinder beruflich pausiert und war nun wieder eingestiegen. Artfremd allerdings, denn gelernt hatte sie den Beruf einer Wirtschaftskauffrau.
"Doch im CKB und auch in der Filmfabrik war kein Job für mich frei", sagt die gebürtige Wolfenerin, "bis man mir die Stelle im Betriebsarchiv des CKB anbot." Sie überlegte nicht lange. Die Kinder waren klein, man lebte noch bei den Eltern, wollte eine eigene Wohnung. Dafür musste Geld verdient werden, zumal nun auch Krippenplätze für Sohn und Tochter vorhanden waren.
In jenem Archiv waren alle viel älter als sie, so um die 50. Auf den Schreibtischen wurde jeden Morgen das Staubtuch geschwungen. "Dafür durfte nicht so viel miteinander gesprochen werden." Nicht leicht für die damals 20-Jährige, dieser Neuanfang. Und viel lernen musste sie. Und irgendwann begann es auch, ihr Spaß zu machen. "Wir befassten uns intensiv mit der Betriebsgeschichte, realisierten Forschungsprojekte. Das war schon sehr interessant." Rund 2 000 laufende Meter betrug der Bestand des Betriebsarchives.
So entschloss sich Eva-Maria Engel, sich für ihre jetzige Tätigkeit auch fachlich zu qualifizieren und absolvierte beim Staatsarchiv Leipzig eine Ausbildung zur Archivassistentin. Das sollte sich bald bezahlt machen. Ihr Kollektiv hatte sich mittlerweile verjüngt, und als 1986 ein neuer Chef gebraucht wurde, fiel die Wahl auf sie.
"Unsere Arbeitsstätte war ein riesiges Wirtschaftsarchiv", erzählt sie. Schließlich umfasste es die Bestände von Farbenfabrik, Elektrochemischem Kombinat und Chemiekombinat. Da gab es täglich zu aktualisieren, wurden Auskünfte verlangt, waren Chronologien zu erstellen. Und so unglaublich es klingen mag: Obwohl das Gebäude dieses Archives längst nicht mehr steht, "weiß ich noch heute, wo dort was gelegen hat".
Dann kam die Wende, die in den Industriebetrieben zu großen Umstrukturierungen führte. Die später entstandene Chemie AG sollte kein eigenes Archiv mehr haben, sämtliche Bestände mussten an das Landeshauptarchiv von Sachsen-Anhalt abgegeben werden.
In Kurzarbeit geschickt
"Dabei wurde es gerade jetzt noch interessanter", erinnert sich die heute 59-Jährige, "weil es plötzlich viele Themen gab, die vorher nicht auf der Tagesordnung standen. Zum Beispiel die Rathenau-Akten." Doch es sollte nicht sein. 1992 wurden sie und ihre Kolleginnen in die Kurzarbeit geschickt, um am Jahresende in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden. So weit ließ es Eva-Maria Engel jedoch nicht kommen.
Sie bewarb sich auf Ausschreibungen. Sowohl für das Kreis- als auch für das Stadtarchiv Bitterfeld wurde ein neuer Leiter gesucht. Die Frau mit den langjährigen Erfahrungen hatte am Ende die Qual der Wahl. "Dass ich mich schließlich für das Stadtarchiv entschieden habe, kam nicht von ungefähr." Bei der Ausbildung in Leipzig hatte sie Tatjana Brückner kennengelernt - damals die Chefin im Bitterfelder Archiv. Und jener lag sehr am Herzen, dass "ihr Archiv" in gute Hände kommt.
Archiv ein "Schmuckkästchen"
"Es ist ja auch ein Schmuckkästchen", schwärmt die Noch-Leiterin von ihrem Arbeitsplatz, der knapp 20 Jahre quasi ihr berufliches Zuhause war. "Bis ins Jahr 1391 reichen die Bestände hier zurück, das gibt es nicht überall."
Doch wer nun glaubt, dass man in einem Archiv von staubigen Akten umgeben ist und trockene Arbeit verrichten muss, der irrt gewaltig. Neben den täglich anfallenden Aufgaben im Verwaltungsarchiv wie das Einlagern von Belegen, Zeitungen, Filmen und mehr hat man hier auch ganz viel mit Menschen zu tun. Oft suchen Umsiedler zum Beispiel nach Nachweisen, dass sie auch wirklich Umsiedler sind. "Hier gab es einen ganz außergewöhnlichen Fall", sagt Frau Engel.
"Da hatte die Mutter eines Umsiedlers mal eine Hose für ihren Sohn bei der Stadt beantragt, und weil das bei uns festgehalten war, hatte der Mann seinen Nachweis." Ahnenforschung wird betrieben, Erbschaftsangelegenheiten spielen eine große Rolle. "Vielen Leuten kann dadurch geholfen werden, und man lernt auch viele Schicksale kennen." Wie das von Fritz Wolf aus Israel, der in den neunziger Jahren in der Tür stand und nach Unterlagen seiner Familie suchte. "Da steht dann plötzlich lebende Geschichte vor Ihnen. "
Große Zahl an Benutzern
Zahlen belegen, welche große Bedeutung das Stadtarchiv hat. Wurden 1992 - damals befand sich das Archiv noch am Krautwall - 123 Benutzer gezählt, waren es im Jahr 2000 rund 1 200. Auch begründet in damals laufenden Projekten mit dem Bauhaus zum Gartenreich und zur Expo 2000.
"Das Archiv ist der Himmel der Akten." Diesen Spruch hatte Eva-Maria Engel einmal von einer Kollegin aus Magdeburg gehört, und weil sie ihn so treffend findet, hat sie ihn oft verwendet bei Führungen oder Veranstaltungen wie zum Tag des Archives. Sie konnte den Satz allerdings noch mit einem Zusatz bereichern: In Bitterfeld hat der Aktenhimmel obendrein noch einen "Engel".
Ab nächste Woche nicht mehr. Was macht der "Engel" da? Ganz viel vorgenommen hat er sich. "Dinge tun, die zu kurz gekommen sind", sagt die baldige Ruheständlerin. Verreisen, im Garten arbeiten, mehr Zeit für die Familien ihrer Kinder haben, zu denen auch drei Enkel gehören. Und für ihren Lebenspartner, der seit drei Jahren an ihrer Seite ist - und bei dem sie auch schon seit zwei Jahren wohnt. In Leipzig. "Für diese schöne Stadt hatte ich natürlich auch noch nicht genügend Zeit. Sie einfach mal genießen, shoppen gehen, Museen besuchen, das Umfeld kennenlernen." Und Sport treiben, etwas für die Gesundheit tun.
Auch Abschied von der Region
Kein Abschiedsschmerz? "Natürlich", sagt Eva-Maria Engel. "Schließlich ist es ja nicht nur ein Abschied vom Beruf, sondern auch von der Region, nach fast 60 Jahren." Wo sie auch Vorsitzende des Vereins der Förderer und Freunde des Kreismuseums ist. Doch in erster Linie soll es für sie ein Neuanfang sein. "Ich fühle mich, als ob es jetzt richtig los geht."