80-Tonnen-Domizile 80-Tonnen-Domizile: Auf dem Goitzschesee bei Bitterfeld schwimmen die Häuser

Bitterfeld - Aufstehen - und wie! Der erste Blick des Tages, vom Bett aus - er schweift über eine schier endlose Wasserfläche. Ist die gläserne Fassade des Schlafzimmers geöffnet, wacht man auch noch auf mit dem leisen Plätschern sanfter Wellen. Aus dem Schilfgürtel nebenan tönt dazu das Schnattern der Enten.
Wohnen auf den Wellen - das ist der ungewöhnliche Ansatz einer neuen Siedlung auf der Goitzsche in Bitterfeld. Es sind die ersten richtigen schwimmenden Häuser in Sachsen-Anhalt.
Lars Schindler ist der Mann, der die Errichtung solcher künstlichen Inseln vom Entwurf bis zum Bezug durch die Eigentümer betreut. Erfahrung besitzt der Bauingenieur mittlerweile auch darin, wenn es heißt, das rohbaufertige Haus vom Hafen an seinen künftigen Liegeplatz in der Uferzone in der Nähe des Campingparks zu bugsieren.
„Das ist dann so etwas wie Richtfest und Stapellauf an einem Tag“, sagt der gebürtige Dessauer. In dieser Woche ist es wieder soweit - und obwohl Schindler den Verdacht des Lampenfiebers weit von sich weist, ist zu spüren: Das ist ein ganz besonderer Tag.
Bis zu 80 Tonnen wiegen die schwimmenden Häuser auf dem Goitzschesee
80 Tonnen liegen im Wasser neben dem Stadthafen: So ein Haus ist ein imposanter Koloss. Schaulustige argwöhnen, dass das Ganze doch eigentlich gleich auf den Grund sinken werde. Genau das passiert aber nicht. Zu verdanken ist es dem zentimetergenau angepassten Spezialponton.
Dabei handelt es sich um einen Bitterfelder Eigenbau, gefertigt nur einen Katzensprung vom Montageplatz entfernt. Der Clou: Ultraleichte Styropor-Kunststoffteilchen füllen die Hohlräume. Ein Plus an Auftrieb und Stabilität, denn diese Parameter müssen stimmen. Immerhin besteht das Fundament ganz konventionell aus schwerem Beton.
Und auch das darauf montierte Haus bringt - trotz Leichtbauweise - noch einmal genau so viele Tonnen an Gewicht mit. Das Gebäude besteht aus Fertigteilen, die ein Werk in Westdeutschland liefert. Die Montage erfolgt vor der Passage über den See am Stadthafen, weil am künftigen Liegeplatz dafür kein Platz ist.
Schwimmende Häuser bei Bitterfeld - Eigentümer oft aus Leipzig oder Berlin
Die künftigen Hausherrn sind zwei Damen. Die meisten anderen Besitzer von schwimmenden Häusern auf der Goitzsche kommen aus Berlin oder Leipzig. Die beiden Neuen sind echte Bitterfelder: Mutter und Tochter, in ihrer Heimatstadt unternehmerisch aktiv und so erfolgreich, dass sie sich diesen Luxus am Wasser leisten können.
Zur Feier des Tages und ihrer ungewöhnlichen Investition steht eine Flasche mit edlem Etikett auf dem improvisierten Tisch. Vor dem Anstoßen ist die richtige Zeit für einen kurzen persönlichen Rückblick. „Der Wandel ist enorm und die Goitzsche ist für mich die Krönung.“ So erinnert sich die ältere der beiden Frauen noch an das „Dreckloch“ und meint den ehemaligen Tagebau, der nach Rekultivierung und Flutung des Geländes in ferner Vergangenheit zu liegen scheint.
Bitterfeld - Tourismus statt Industriedreck
Dabei ist es doch erst wenige Jahrzehnte her, da Bitterfeld deutschlandweit der Schmähbegriff für Umweltfrevel aller Art gewesen ist. Die jüngere Frau, gerade Anfang 30, kennt nach eigenem Bekunden das alles nur aus Erzählungen. Ihr Blick richtet sich auf das Wesentliche im Hier und Heute: „Inzwischen konkurriert Bitterfeld mit der Mecklenburger Seenplatte. Dem Tourismus gehört die Zukunft.“
Diese Entwicklung lasse sich nutzen. Deshalb wolle man das schwimmende Haus nach einiger Zeit der eigenen Nutzung auch vermieten. Das sei Bestandteil der Refinanzierung.
Schwimmende Häuser bieten viel Platz und auch Luxus
Freilich wollen die Gastgeberinnen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Denn der geschäftliche Erfolg, so ihre Erfahrung, habe eine ärgerliche Kehrseite: Neid. Die klare Absage an das neugierige Publikum verstellt dem Duo jedoch nicht den Blick für das Schöne im Leben: 140 Quadratmeter auf zwei Stockwerken groß, so aufgeteilt und gestaltet, dass bis zu acht Personen hier klarkommen können. Darauf ein Gläschen vom guten Rotkäppchen-Sekt!
Da der Innenausbau noch bevor steht, ist an dieser Stelle nicht weiter auf Einzelheiten einzugehen. Nur so viel: Es dauert noch einige Wochen bis zur Fertigstellung. Aber keine Sorge, versichert die Bauleitung, an Sonderwünschen scheitert so ein Projekt nicht.
Damit sind nicht nur edle Hölzer oder Armaturen gemeint. Wenn es die Haushaltskasse zulässt, muss auch niemand auf Kaminfeuer oder die bordeigene Sauna verzichten. Alles ist möglich, genau wie bei Häusern an Land. Einziges Manko: Die private Insel ist letztlich doch kein Schiff und daher nur bedingt für seemännische Manöver geeignet.
Schwimmende Häuser nicht für maritime Manöver geeignet
Ursache sind nicht nur fehlende Segel und Motoren. Der eigentliche Grund liegt darin: „So ein Haus bietet dem Wind eine große Angriffsfläche, es treibt dann schnell ab“, sagt Hans Renker. Das sei auch der Grund, weshalb er ab Windstärke 3 beim Bugsieren zum Abwarten rate.
Und der alte Seebär muss es wissen. Während er die vorgeschriebene Schwimmweste überstreift, gibt der Schubbootfahrer aus Ribnitz-Damgarten (Mecklenburg-Vorpommern) zum Besten: „Wir haben schon etliche schwimmende Häuser quer über die Goitzsche bugsiert, aber ganz ohne Problem ging das nie ab.“ Mitunter seien schon mehrere Anläufe nötig, um so ein Schwergewicht am vorgesehenen Platz festmachen zu können.
Und dieses Mal sei die verbliebene Lücke doch ziemlich schmal. Seemannsgarn? Das bleibt erst einmal offen. Fakt ist: In Bitterfeld herrscht an diesem Nachmittag wahres Kaiserwetter - strahlender Sonnenschein, blauer Himmel und ein warmes Lüftchen, das die Haut streichelt.
Ingenieur Schindler steht auf dem Dachgarten und gibt, assistiert von den Eigentümerinnen, das Signal zum Ablegen. Renker und seine Helfer haben ihr Schubboot bereits in Stellung gebracht. Nun müssen nur noch die 28 Millimeter starken Leinen gelöst werden. Dann sorgt die Maschine mit 18 Litern Hubraum für Vortrieb.
300 PS aus zehn Zylindern drücken das schwimmende Haus langsam hinaus auf den See. Vibrationen sind kaum merklich. Immer mehr gewinnt die Fuhre an Fahrt, teilt das Wasser geräuschvoll und lässt das sichere Ufer ganz leicht schwankend immer weiter hinter sich.
Einer der Helfer pfeift spontan eine Melodie, die alle an Bord kennen: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. So ein ähnliches Gefühl kommt jetzt auch auf.
Zeit für einen Rund-um-Blick: Auf der Backbordseite taucht die Abendsonne die Altstadt von Bitterfeld in rotes Licht. Steuerbord reicht der Blick in Richtung Dübener Heide, die bis an die Goitzsche heranreicht. Kapitän Renker zeigt zum Stadthafen hinüber. „Das ist ganz anders als bei uns an der Ostsee. “
So ein junges Gewässer wie die Goitzsche berge Überraschungen, die man an der Küste gar nicht kenne. „Wenn wir da nicht die Geologie ausgiebig studiert und höllisch aufgepasst hätten ...“
Aufpassen ist auch die Devise beim Anlegen. Petrus beschert dazu absolute Windstille. Jetzt braucht es nur noch eine ruhige Hand am Steuer und ein gutes Augenmaß. Zentimeter um Zentimeter geht es voran. Da ist der Landesteg. Ein zweites Ansteuern ist nicht nötig. Es klappt im ersten Anlauf. Nichts ruckelt mehr.
Das Andocken und Vertäuen läuft wie am Schnürchen. Renker macht nicht viele Worte. Nur ein Lächeln huscht über sein wettergegerbtes Gesicht. Er ist zufrieden, und seine Auftraggeber sind es auch.
Goitzschesee - ein dutzend Hausboote gibt es schon
Einzug ins neue Heim: Ein gutes Dutzend schwimmende Häuser und Hausboote sind schon da, liegen wie an einer Perlenkette aufgereiht im Wasser. „Meine Olle“ ist vielleicht nicht der klangvollste Name. Es geht auch anders, zum Beispiel „La-belle-vie“ oder „Seapearl“. Ihre Bewohner genießen den Sonnenuntergang oder angeln.
Auch Kinder sind unterwegs am Steg und an Land. Ramona Lemmnitz, die den Projektentwickler „floating house“ vor Ort vertritt, sagt: „Absehbar ist, dass bald der letzte Liegeplatz vergeben ist.“ Hauspreise bis zu 400.000 Euro in der Grundausstattung bremsen das Interesse offenbar nicht.
Schwimmende Häuser bei Bitterfeld sind gefragt
Meistens vergingen nur sechs Monate von der Reservierung bis zur Fertigstellung eines Domizils auf dem Wasser, demnächst auch auf dem Geiseltalsee (Saalekreis) und auf dem Zwenkauer See bei Leipzig. Dauerwohnen auf dem Wasser dürfte allerdings hierzulande die Ausnahme bleiben. Die öffentliche Verwaltung, heißt es, kann sich noch nicht mit diesem Gedanken anfreunden.
Würde jemand seine feste Wohnanschrift in ein schwimmendes Haus verlagern wollen, widerspräche das den Regeln. In Sachsen-Anhalt gibt es dafür - anders als in Berlin - keine offizielle Meldeadresse. (mz)