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Weihnachtszeit Weihnachtszeit: Bei Niederegger gibt es Mandeln, Zucker und das gewisse Etwas

Von Christian Schultz 07.12.2006, 11:51
Niederegger-Mitarbeiterinnen bemalen im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger mit Pinseln und Lebensmittelfarbe Marzipanteller. (Foto: dpa)
Niederegger-Mitarbeiterinnen bemalen im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger mit Pinseln und Lebensmittelfarbe Marzipanteller. (Foto: dpa) dpa

Lübeck/dpa. - Ein Rüttelgittertransportiert die Köstlichkeiten von der Schokolier-Maschine in dieKühlung. Nur noch die festliche Verpackung fehlt, bevor die Reise ineines der prall gefüllten Süßigkeitenregale beginnt. Wie bei vielenSüßwaren-Herstellern wird auch bei der Traditionsfirma Niederegger inLübeck vor Weihnachten in Sonderschichten gearbeitet.

Stählerne Schieber halten einzelne Marzipanbrote in Reih undGlied. Kein einziges entgeht den wachsamen Blicken zweier Frauen inweißen Kitteln und mit altmodischen Hauben auf dem Kopf. Jederüberstehende Tropfen Schokolade wird mit einem kleinen Spatelentfernt. Perfektion zählt, im Schatten der Backsteinsilhouette derLübecker Altstadt.

Etwa 750 Menschen arbeiten in diesen Tagen in der Fabrikation imSüden der Hansestadt, 250 davon sind seit September alsSaisonarbeiter eingestellt worden. «Für viele Mitarbeiter hat dasseit Jahren Tradition. Im Frühjahr wird im Garten gearbeitet, imHerbst bei Niederegger», erzählt Firmen-Sprecher Willi Meier. «DieLoyalität unserer Mitarbeiter ist sehr hoch, Marzipan klebt eben.»

Die Arbeitszeiten müssen entsprechend flexibel gestaltet werden,bei Niederegger gibt es daher Jahresarbeitszeitkonten. Während in denersten sechs Monaten eine Stunde weniger gearbeitet wird, müssen sichdie Mitarbeiter nach dem Sommer täglich 60 Minuten länger demMarzipan widmen. Dann laufen die Maschinen von sechs bis 23 Uhrdurch. Bis zu 30 Tonnen Marzipan verlassen pro Tag die Produktion undwerden in 60 Länder exportiert. Sogar im neuseeländischen Aucklandoder im peruanischen Lima ist die Mandelspezialität mit demHolstentor zu haben. «Wenn wir unsere Tagesproduktion in eine Reihelegen würden, käme eine Schlange von Lübeck bis Kiel heraus», erklärtMeier.

Früher war Marzipan freilich seltener - ein Luxus, der nur wenigenvorbehalten war. Historische Chroniken zeugen davon, dass schon beimReichstag in Speyer im Jahr 1526 Marzipan-Obst gereicht wurde. AmZarenhof in St. Petersburg soll der Morgenkaffee mit Marzipanverfeinert worden sein. 1908 stieg die Firma Niederegger gar zumHoflieferanten des deutschen Kaisers auf. Zu dem Zeitpunkt konnte dieHansestadt bereits auf eine lange Tradition zurückblicken, 1530tauchte Marzipan erstmals in den Zunftrollen auf. Ursprünglich stammtdas Mandelmus aus dem Orient. Hierzulande galt es bis ins 18.Jahrhundert als Heilmittel und wurde von Apothekern hergestellt.

Weniger als Heilmittel denn als begehrte Nascherei gelten die über300 Produkte des Niederegger-Sortiments heute. Doch bevor sie dasWerk verlassen können, wartet viel Arbeit. In Lübeck beginnt dieProduktion mit der Herstellung der Marzipan-Rohmasse. Dafür werdendie in Jute-Säcken gelieferten Mandeln - vor allem aus Italien undSpanien - zunächst gebrüht. Die Gummiwalzen der Schälmaschine lassendie braunen Hülsen der Mandeln aufspringen, bevor einefarbelektronisch gesteuerte Maschine mit der Sortierung beginnt,gefolgt von einer Handauslese. Auf Förderbändern wandert alles zumWaschen in riesige Kupfertrommeln.

Was nun folgt, nennt Meier das Geheimnis von Niederegger: Ingroßen Trichtern wird flüssiger Zucker und eine dem Rosenwasserähnliche Zutat zugegeben. «Entscheidend ist die Mischung derverschiedenen Mandelsorten, jede hat ihren eigenen Charakter»,erklärt Meier. Zudem steigere ein niedriger Zuckeranteil die Qualitätdes Marzipans. Über die genaue Rezeptur herrscht Stillschweigen.Kreiert hat sie der aus Ulm stammende Konditorgeselle Johann GeorgNiederegger, der die Firma im Jahr 1806 in der Hansestadt gründete.

Das deutsche Lebensmittelgesetz schreibt indes vor, dass derZuckergehalt der Rohmasse 35 Prozent nicht übersteigen darf. Oftmalswird zusätzlich gesüßt, so dass Konsummarzipan teilweise zur Hälfteaus Zucker besteht. Lübecker Hersteller hingegen einigten sich vorJahren auf höhere Qualitätsstandards. Seit 1996 ist der Begriff«Lübecker Marzipan» eine von der Europäischen Union geschütztegeographische Angabe. «Dort, wo Lübecker Marzipan drauf steht, istauch Lübecker Marzipan drin», bestätigt Bernd Christoph von derschleswig-holsteinischen Landwirtschaftskammer.

Gemäß diesem Qualitätsstandard liegt der Rohmassen-Anteil bei 70Prozent und der Zuckeranteil bei 30 Prozent. «Auch dasHerstellungsverfahren ist genau vorgeschrieben», ergänzt Christoph.Niederegger verzichtet sogar völlig auf zusätzlichen Zucker. AuchHaltbarkeitsmittel, die den Geschmack des Marzipans beeinträchtigenkönnen, werden nicht verwendet: «Wenn es nach dem Verzehr zu einemKratzen im Hals kommt, kann das ein Indiz für solche chemischenZutaten sein», erklärt Meier.

Die Mandeln haben mittlerweile die nächste Maschine erreicht, nunwird alles von massiven Walzstühlen aus Granit zu einer teigartigenMasse gemahlen. Bis vor knapp 150 Jahren war das noch eine wesentlichmühevollere Arbeit, als die Mandeln mit einer Holzkeule in einemReibstein zerkleinert wurden. Kaum verändert hat sich dagegen dieRöstung. Das geschieht noch heute über einer offenen Gasflamme, diedas Gemisch auf 95 Grad Celsius erhitzt. Ein paar Meter weiter steigtdichter Dampf auf. In Kesseln wird die Masse unter ständiger DrehungKältedampf ausgesetzt. Der abgekühlte Teig wird eingeschweißt undmuss einige Stunden ruhen.

In der Anwirkerei wird ein Teil der Masse unter dem alternierendenGeräusch der Knetmaschinen mit zusätzlichem Geschmack versehen, zumBeispiel Espresso, Ananas, Orange oder Pistazie. Kaum leiser arbeitendie Walzen der Formstraße. Dort zaubern Formbleche inSekundenschnelle Herzen, Glücksschweine, Bären oder Brotlaiber in dieMarzipanmasse - fast wie beim heimischen Plätzchenbacken. AuchMarzipan-Meerestiere entstehen hier, die Nähe zur Ostsee verpflichteteben. Vom Seestern über die Krabbe bis zum Aal ist alles dabei.

In der Schokoliermaschine werden die kleinen Kunstwerke von obenund unten mit einer Schokoladenschicht überzogen. Die auf denFörderbändern eingearbeiteten Buchstaben sorgen dafür, dass auf jedemProdukt die Initialen des Firmengründers zu lesen sind. SofernSchönheitsfehler zu sehen sind, landet die Süßigkeit in einer dergroßen Plastiktüten neben der Produktionsstraße. Dieser so genannteBruch wird günstiger an Mitarbeiter verkauft und gilt als sehrbeliebt.

Die Lust am Naschen haben die meisten Mitarbeiter trotz destäglichen Umgangs mit Marzipan nicht verloren. «Ich esse es auch nachJahren noch sehr gerne», sagt Karin Alwert, die im Haus zu denKartoffel-Spezialistinnen zählt. Sie arbeitet in der Fertigung derberühmten Marzipan-Pellkartoffeln. Geschickt und mit Gespür für denrichtigen Augenblick schwingt sie die Marzipankugeln in einerotierende Trommel mit Kakaopulver. «Augenmaß ist wichtig, damit dierichtige Färbung herauskommt», erklärt Alwert nicht ohne Stolz.

Noch künstlerischer geht es am anderen Ende der Halle zu. Hierstellen Modelleure Gipsvorlagen für individuelle Marzipantorten her.Diese werden nach dem Pressen in der Schminkerei per Hand mitLebensmittelfarbe bepinselt. Auf den Torten, die teilweise den Umfangeines Esstellers erreichen können, prangen unter anderem historischeAnsichten der Hansestadt an der Trave. Nebenan werden Birnen undÄpfel aus Marzipan perfektioniert. Mit ruhiger Hand werden täuschendecht aussehende Wurmstiche und Druckstellen aufgemalt.

Jetzt fehlt nur noch die festliche Verpackung. Damit die mühevollhergestellten Produkte keinen Schaden nehmen, werden sie mitLuftdruck angesaugt und sanft in Kartons gehoben. Besondersaufwendige Köstlichkeiten werden gar in Handarbeit verpackt, zumBeispiel von Heidi Wiesner, die ihre vierte Saison bei Niedereggerarbeitet. «Es ist ein schönes Gefühl, das fertige Produkt in denHänden zu haben», sagt sie. Der farbenfrohe Anblick der Waren, dieihren Weg in alle Welt antreten, sei einfach etwas Besonderes.

Besonders sind auch die Weihnachtsgeschenke, die eine Reederei indiesem Jahr bei Niederegger bestellt hat. Jeweils 600 Gramm schwereContainerschiffe aus Marzipan sollen guten Kunden das Fest versüßen.Bevor sie in Holzkästchen verpackt werden, werden der Rumpf und derSchornstein blau-weiß gefärbt. Auf Deck wird ein Mast mit der Flaggeder Reederei verstaut, um vor dem Verzehr gehisst werden zu können.

Derartige Liebe zum Detail ist auch in der Pralinenherstellungwichtig. Hier entstehen «süße Sünden», wie Cognac-, Champagner- oderCalvados-Trüffel. Fertig ist eine Praline erst nach dem «Igeln». Sowird das Aufrauhen der Oberfläche mit einem gitterformigen Spatelgenannt. Allein zwölf verschiedene Nougat-Sorten werden verarbeitet,200 Rezepte für verschiedene Füllmassen ruhen in den Firmentresoren.

Auf der Tradition ausruhen kann sich Niederegger dennoch nicht.Zwölf Mitarbeiter sind permanent damit beschäftigt, neue Produkte zuentwickeln. 100 Novitäten werden pro Jahr getestet, mittlerweile gibtes Christstollen, Marzipan-Cappuccino, Marzipan-Eierlikör oder Paketemit passendem Rotwein für besinnliche Momente. In der Produktionhingegen wird es auch nach Weihnachten kaum besinnlich werden, kurzdanach startet bereits die Oster-Vorbereitung. Wieder wird Schokoladegemächlich über Mandelmus fließen, das dann jedoch die Form von Eierund Hasen haben wird.

Niederegger-Mitarbeiterin Karin Ventur bemalt im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger mit einem Pinsel Marzipanweihnachtsmänner. (Foto: dpa)
Niederegger-Mitarbeiterin Karin Ventur bemalt im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger mit einem Pinsel Marzipanweihnachtsmänner. (Foto: dpa)
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Niederegger-Mitarbeiterinnen prüfen im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger am Fließband die laufende Produktion Marzipansterne. (Foto: dpa)
Niederegger-Mitarbeiterinnen prüfen im Lübecker Stammhaus der Marzipanfabrik Niederegger am Fließband die laufende Produktion Marzipansterne. (Foto: dpa)
dpa