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Typisch Nesthäkchen Typisch Nesthäkchen: Wie stark prägen Geschwister unseren Charakter?

Von Isabell Wohlfarth 14.10.2016, 11:30
Der vernünftige Erstgeborene, das freche Sandwichkind, das süße Nesthäkchen?
Der vernünftige Erstgeborene, das freche Sandwichkind, das süße Nesthäkchen? imago stock&people

Ich bin das zweite von vier Kindern, im Volksmund auch gerne „Sandwichkind “ genannt - die berühmte Mittelposition darf ich mir mit meinem Bruder teilen. Glaubt man vielen Vorurteilen, dann haben wir beide von allen Geschwistern den schlechtesten Stand gehabt. Denn mittlere Kinder, so sagt man, werden am ehesten vernachlässigt. Schließlich haben sie nie das Privileg, allein zu sein mit den Eltern, wie die vernünftigen Erstgeborenen. Und auch nicht den Süß-Vorteil des verhätschelten Nesthäkchens.

Nein, vernachlässigt war ich wirklich nicht. Natürlich hatte damals, als wir klein waren, jeder so seine Position, seine Nische in der Familie. Aber so richtig finde ich mich und meine Geschwister in dieser Klassifizierung nicht wieder. Ist denn überhaupt etwas dran an den Aussagen über „typische Erstgeborene“, „typische Sandwichkinder“ und „typische Nesthäkchen“?

Eindeutige Charakterzuschreibungen aufgrund der Geburtsfolge sind sicherlich übertrieben. Dennoch halten sich die Stereotype hartnäckig. Auch weil es immer wieder Studien gibt, die sie teilweise stützen oder belegen.

Erstgeborene sollen schlauer sein

Der amerikanische Psychologe Frank J. Sulloway etwa sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Geschwisterposition und den Wesenszügen der Kinder. Erstgeborene seien zum Beispiel viel vernünftiger, weil sie oft als Ersatzeltern fungieren müssten. Dass erste Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit auch intelligenter sind als jüngere Geschwister, das haben norwegische Forscher bei einer Langzeitstudie mit 250.000 männlichen Wehrpflichtigen festgestellt. Politiker seien meistens Erstgeborene, hat eine niederländische Studie herausgefunden. Erste Kinder würden auch häufiger CEO, also Chef, so die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung.

Mathematisch belegt: Arme Sandwichkinder

Sandwichkinder hätten rein logisch schon die schlechteste Ausgangsposition, das hat das Max-Planck-Institut in Berlin mathematisch belegt: Denn mittlere Kinder bekommen nie die alleinige Aufmerksamkeit der Eltern, selbst wenn die sich gerecht verhalten wollen. Das Erstgeborene hat am Anfang Zeit allein, der Nachzügler am Ende, wenn die anderen Kinder ausgezogen sind. Die Kinder dazwischen müssen immer teilen. Wozu diese Benachteiligung führen kann, auch dazu gibt es verschiedene Antworten und Untersuchungen. Mittelkinder fallen demnach häufiger als aggressiv auf und grenzen sich stärker ab, sagen manche. Auf der anderen Seite gelten sie auch als selbstständiger, harmonischer und diplomatischer.

Nesthäkchen mögen das Risiko

Auch über die berühmten Nachzügler gibt es viele Aussagen: Sie gelten einmal als charmant und besonders kontaktfreudig, einmal als manipulativ und eher chaotisch. Eine amerikanische Studie behauptet, dass jüngere Geschwister häufiger Extremsportarten betreiben und damit risikofreudiger sind. Außerdem seien sie aggressiver, wie Forscher der Universität Kalifornien herausgefunden haben.

Anscheinend finden sogar Menschen mit gleicher Geschwisterposition besonders oft zusammen. Laut einer Studie der Harvard University haben nicht nur enge Freunde häufig den gleichen Geburtsrang, sondern das gilt auch für den Heiratsmarkt: Erstgeborene ehelichen gerne Erstgeborene, Nachzügler häufiger Nachzügler und Einzelkinder lieber Einzelkinder.

Erziehung und Familiensituation entscheidend

Betrachtet man die Studienergebnisse und Klischees zum Thema Geschwisterfolge, dann merkt man schnell, wie schwierig eindeutige Aussagen sind. Sicher gibt es Fälle, in denen die Klassifizierungen zutreffen. Und grundsätzlich gibt es auch Tendenzen, gewisse Charaktereigenschaften zu entwickeln. Dass Ältere schneller einmal Verantwortung übernehmen und Jüngste nichts mehr erkämpfen müssen, das kann natürlich dazu führen, dass Kinder bestimmte Wesenszüge entwickeln.

Letzten Endes liegt es jedoch an der individuellen Familiensituation, wie Geschwister ihre Position empfinden, welche Charakternische sie sich suchen und wie sie sich miteinander entwickeln. Viele Dinge spielen dabei eine Rolle. Zum Beispiel, wie groß der Altersabstand zwischen den Kindern ist, und welches Geschlecht sie haben. Und selbst dann kann es so und so ausgehen. Schwestern, die zeitlich eng aufeinander folgen, stehen sich oft besonders nah, sind manchmal aber auch die ärgsten Rivalen.

Die größte Rolle spielt natürlich die Erziehung durch die Eltern. Wie sie zum Beispiel ein neues Geschwisterkind in die Familie einführen, wie sie auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder reagieren und wie sie ihre Aufmerksamkeit verteilen.

Hat die Geburtsfolge Einfluss auf meinen späteren Charakter?

Und wie sehr prägt die Geschwister-Position nun meinen späteren Charakter: Bin ich so, wie ich bin, weil ich das zweite von vier Kindern war? Die Prägung durch die Geschwisterposition ist gering, sagt Entwicklungspsychologe und Geschwisterforscher Hartmut Kasten. „Nur wenn sehr konservative Eltern in ihrer Erziehung darauf abheben, klassische Rollen, also echte Stammhalter oder Nesthäkchen zu erziehen, dann kann das Wirkung zeigen.“ Solche eher klassischen Rollenzuschreibungen in Bezug auf Geschwisterpositionen seien eher von gestern. Und wenn es eine solche Prägung gebe, dann nur vorübergehend. „Enge Beziehungen, die uns prägen, kommen immer wieder: In der Jugend die Peers und dicken Freunde, dann die Beziehungs- und Berufspartner.“

Geschwister prägen, ein Leben lang

Ob ich mich als „typisches Sandwich“ sehe, das liegt sicher auch daran, wie ich meine eigene Situation rückblickend interpretiere. Eins weiß ich aber ganz sicher: Ich wäre eine andere geworden ohne den Einfluss meiner Geschwister. Auch als Erwachsene sind sie für mich lebenswichtig.

Kein Wunder, schließlich ist die Beziehung zu den Geschwistern die längste, die wir haben. Schwestern und Brüder prägen ein Leben lang. Manchmal sind sich Geschwister ganz nah, manchmal regiert die Eifersucht, die Beziehung bleibt ambivalent und stetig im Fluss. „Wir alle verändern uns“, so Geschwisterforscher Kasten „und mit uns auch unsere Beziehung zu unseren Geschwistern.“

Mehr zum Thema:

Hartmut Kasten: Geschwister: Vorbilder - Rivalen - Vertraute, 2003
Susann Sitzler: Geschwister: Die längste Beziehung des Lebens, 2014
Horst Petri: Geschwister - Liebe und Rivalität: Die längste Beziehung unseres Lebens, 2012
Jürg Frick: Ich mag dich - du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben, 2011