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Schon ein Glas ist zu viel Schon ein Glas ist zu viel: So gefährlich ist Alkohol in der Schwangerschaft wirklich

Von Lisa Harmann 12.09.2017, 00:00
Alkohol in der Schwangerschaft kann lebenslange Folgen für das ungeborene Kind haben, es gilt als Hauptursache für Fehlbildungen.
Alkohol in der Schwangerschaft kann lebenslange Folgen für das ungeborene Kind haben, es gilt als Hauptursache für Fehlbildungen. imago stock&people

Selina ist 14 und schmiert sich ihr Brot nicht selbst. Sie könnte das schon, aber es würde viel Kraft erfordern, die sie für Wichtigeres gebrauchen kann. Selina ist ein FAS-Kind. FAS, das steht für „Fetales Alkoholsyndrom“. Selinas Mutter hat in der Schwangerschaft Bier und Wein getrunken und damit irreversible Schäden in ihrem Gehirn verursacht. Heute lebt Selina in einer Adoptivfamilie.

Lebenslange Folgen für das Kind

Alkohol in der Schwangerschaft kann lebenslange Folgen für das ungeborene Kind haben, es gilt als Hauptursache für Fehlbildungen. Aber auch sozial-emotionale Schwierigkeiten und intellektuelle Einschränkungen sind eine häufige Folge. Die Symptome reichen von Konzentrationsschwierigkeiten über mangelnde Wahrnehmung und Schmerzempfinden, Schwierigkeiten mit der Feinmotorik bis hin zu Herzfehlern.

Trotzdem konsumieren etliche deutsche Frauen in der Schwangerschaft Alkohol. Und das Baby trinkt mit. Pro Jahr kommen etwa 2000 Neugeborene mit einem Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms (FAS) zur Welt, weitere 2000 mit einem teilweisen FAS (pFAS). Beide Störungsbilder werden als Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zusammengefasst.

Schwangere sollten komplett auf Alkohol verzichten

„Frauen sollten in der Schwangerschaft komplett auf Alkohol verzichten“, rät Heike Schürmann. Sie ist Beleghebamme am St. Vincenz Hospital in Coesfeld, hat selbst zwei Kinder und erzählt von einer Schwangeren, die mit 1,8 Promille zur Entbindung gekommen sei. „Im Blut des Kindes stellten wir 2,6 Promille fest.“

Was viele noch immer nicht wissen: Alkohol und dessen Abbauprodukte passieren den Mutterkuchen und können direkt zu organischen und funktionellen Entwicklungsstörungen des Fötus führen. Alkohol ist ein Nervengift, das sich auf die Zellteilung auswirkt. Föten brauchen bis zu acht Mal länger als Erwachsene, um ihn zu verarbeiten. Nicht immer führt dies zu Schäden, falls aber doch, bleiben diese für immer.

Alle Schichten sind betroffen

„Alle Bevölkerungsschichten sind betroffen“, sagt Dr. Reinhold Feldmann. Er leitet die FAS-Ambulanz in der Tagesklinik Walstedde im Münsterland. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sei vor allem in gut gebildeten Kreisen verbreitet. „Die Bankiersgattin trinkt in der Schwangerschaft statistisch gesehen mehr als eine Frau aus einem sozialen Brennpunkt“, sagt er. „Wir wissen aber nicht, bis zu welchem Grenzwert Alkohol in der Schwangerschaft noch harmlos ist.“

Alle wichtigen Berufsverbände empfehlen deshalb den gänzlichen Verzicht auf Alkohol in der Schwangerschaft. Denn: Bis heute lässt sich kein linearer Zusammenhang zwischen der Menge des konsumierten Alkohols und dem Ausmaß der embryonalen Schädigung nachweisen. Darum sollten Schwangere besser ganz verzichten.

Viele wissen nicht, wie schädlich Alkohol in der Schwangerschaft sein kann

Katrin Lepke ist stellvertretende Vorsitzende vom FASD Deutschland e.V.. Der Verein ist ein Zusammenschluss aus Adoptiv- und Pflegefamilien, aus leiblichen Eltern, Ärzten, Hebammen, Therapeuten und anderen Menschen, die sich für die Belange von alkoholgeschädigten Kindern einsetzen. Sie sagt: „Es ist wichtig, dass wir alle zusammen arbeiten. Es geht ja um die Kinder.“ Der Verein organisiert Selbsthilfegruppen, Fachtagungen, Familienfreizeiten, Seminare und Fachtagungen zum Thema, erstellt Informationsmaterial und Bücher. „Ein umfassendes Angebot ist wichtig“, sagt sie, „und Aufklärung“. Sie hält Vorträge in Schulklassen, leistet wertvolle Präventionsarbeit. „Viele wissen wirklich nicht, wie schädlich Alkohol in der Schwangerschaft sein kann.“

FAS ist auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen

Selina spürt die Auswirkungen in ihrem Leben täglich. Sie geht auf eine Förderschule, auf einer „normalen“ Schule könnte sie nicht mithalten, auch sozial nicht. Denn das Schwierige an FAS ist: Es ist auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen. Betroffene wie Selina haben geistig-intellektuelle Defizite oder psychische Auffälligkeiten. Außenstehende überschätzen FAS-Kinder oft, halten sie für schlecht erzogen, dabei sind sie einfach nicht so schnell in ihrem Lernen.

Kinder mit vermindertem Schmerzempfinden

Selina kann sich selbst anziehen, wenn die Kleidung in der richtigen Reihenfolge zusammengelegt wurde. Liegt der Slip vor dem Unterhemd, zieht sie sich gern auch mal die Unterhose über den Kopf. Dazu kommt ein vermindertes Schmerzempfinden, was gefährlich werden kann, weil sie auch einen Beinbruch nicht bemerken würde. Lesen kann sie mittlerweile, schreiben ist schwieriger, da wird aus einem „Sprecher“ schon mal ein „Schbrecha“. Sie vergisst unheimlich schnell.

Was, wenn man Alkohol konsumiert, weil man noch nicht weiß, dass man schwanger ist?

Aber was ist nun mit all jenen, die schwanger wurden, zu Beginn noch nichts ahnten und darum nicht auf Alkohol verzichteten? Dr. Feldmann erklärt: „In den ersten Wochen können sich die Zellen des Embryo noch gut erholen. Es gilt ganz einfach: Sobald die werdende Mutter weiß, dass sie schwanger ist, sollte sie auf alkoholische Getränke verzichten. Sie kann dann sicher sein, dass ihr Kind keine alkoholbezogenen Schäden davonträgt.“

Störungen wie bei Selina werden oft erst anders eingeordnet. Dr. Feldmann: „Zu uns in die FAS-Ambulanz kommen unter anderem Familien mit Kindern, bei denen vorher ADHS, Autismus oder eine Bindungsstörung vermutet wurde“. Diese Erkrankungen sähen manchmal ähnlich aus. Ist einmal FAS diagnostiziert, sei vieles ausgleichbar durch Medikamente. Diese seien bei organischen Schäden auch durchaus sinnvoll.

Pflegefamilien helfen Kindern mit FAS

Hinzu kommt Frühförderung, Ergotherapie und Logopädie. Behandelt werden also die Symptome. Das, was in der Schwangerchaft mit dem kindlichen Gehirn passiert ist, ist nicht heilbar. Neben der Behandlung der Symptome sei es vor allem wichtig, betroffene Familien zu unterstützen, sagt Dr. Feldmann. Diese Unterstützung sei ein wichtiger Pfeiler seiner Arbeit. Und das ist er auch in der Arbeit von Katrin Lepke in ihrem Verein. Selina hat diese Unterstützung in einer Adoptivfamilie gefunden.