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Indien Indien: Lebende Brücken

Von Bernd Kubisch 20.12.2012, 18:35

Halle (Saale)/MZ. - Der steinige Pfad im Dorf Riwai führt nach unten zum Fluss. Schwarze Hausschweine haben zwischen Holzhäuschen, Palmen und Bananenstauden freien Auslauf. Luftwurzeln schwingen leicht im Wind. Riesenfarne und Urwaldbäume spenden etwas Schatten. Kleine Echsen huschen über Felsgestein. Es ist ein bisschen wie im Märchen- und Elfenwald der Film-Trilogie "Herr der Ringe". Statt einer bewehrten Burg taucht am rauschenden Wasser ein Wall aus Wurzeln auf, der sich beim Näherkommen als Brücke entpuppt.

Eine alte Frau hält sich am Wurzelgeländer fest und schaut auf die Wäscherinnen, die auf Felsen stehend im zu dieser Zeit seichten Fluss Handtücher ausklopfen. Das Volk der Khasi baut seit Jahrhunderten Brücken, ohne einen Cent auszugeben: Es lässt sie wachsen. Noch heute geben die Väter die Fertigungskunst an ihre Kinder weiter, Wurzeln von ausgewählten Gummibäumen auf beiden Seiten eines Flusses mit Führungshilfe schlanker Stämme von Betelnussbaum oder Bambus über das Wasser wachsen zu lassen.

Etwa 15 Jahre dauert es, bis das Wurzelgeflecht 20 bis 30 Meter lange Brücken bildet. "Ich war noch ein Kind, als die Wurzeln über den Fluss zu wuchern begannen. Sie wachsen heute noch", sagt die alte Frau, die ihr Alter auf 75 schätzt. Ungezählte solcher Bauwerke wachsen in Meghalaya, dem kleinen indischen Bundesstaat im östlichen Zipfel des Subkontinents. Die meisten von ihnen von Touristen unentdeckt.

Meghalaya ist das Land der Berge, der grünen Hügel, der reißenden Flüsse und Wasserfälle in der üppigen Regenzeit sowie das Land faszinierender Höhlen und eines ungewöhnlichen Rekordes: In Cherrapunji, knapp 1 400 Meter hoch und westlich von Mawlynnong, posieren Touristen vor einem Schild: "The wettest place on planet earth" steht dort Schwarz auf Gelb. Die Ehre, wer der nasseste Platz auf dem Planeten Erde ist, wechselt manchmal. Auch woanders in Meghalaya und auf Hawaii gibt es Orte mit weltrekordverdächtigen Regenmengen.

Wegen der grünen Hügel und klaren Bäche fühlten sich manche Briten während der Kolonialzeit an ihre Heimat erinnert und nannten Meghalaya "Schottland des Ostens". "Den Beinamen hat die Region auch wegen der Trinkgewohnheiten", sagt Robert Garnett Lyngdoh schmunzelnd. Der Geschäftsmann, ein Khasi, war früher Tourismusminister.

"Unglaublich, wie ordentlich und gepflegt Mawlynnong ist, das sauberste und schönste Dorf in meinem Land", sagt Manu Singh. Der Computerexperte aus Bhubaneswar im Bundesstaat Orissa muss es wissen. Er ist viel gereist. Eine Familie aus Varanasi lässt sich von dem Geschäftsmann auf einer etwa 25 Meter hohen Plattform aus Bambus ablichten. Das Panorama: Unendliches Grün mit roten und grauen Dachtupfern und der Spitze eines kleinen Kirchturms. Hier fegen die Dörfler vor ihrer Haustür fast täglich. Die kleinen Gebäude sind schlicht und gepflegt, die Gärten voller Blüten. Die Gastfreundschaft in den kleinen Pensionen und Teestuben ist groß. Kein Müll im Gebüsch, dafür Papierkörbe am Wegesrand. Die Besucher - meist aus Indien - sind begeistert.

Father Joseph begrüßt die meisten Gläubigen persönlich mit einem freundlichen Händeschütteln. Der katholische Priester hat viel zu tun an diesem ganz normalen Sonntag. Die große Cathedral of Mary Help im 1 500 Meter hohen Shillong in den Khasi-Bergen strahlt in hellem Blau und geht farblich fast nahtlos in den wolkenfreien Himmel über. Die Kirche hat etwa 700 Sitzplätze. "In zehn Minuten sind die alle voll", sagt der Pfarrer und schaut dabei auf seine Uhr. Und Weihnachten und Ostern? "Dann übertragen wir mit Lautsprechern auch nach draußen." Die britischen Kolonialherrscher haben viele Missionare mitgebracht, Kirchen gebaut - und 1898 in Shillong auch einen Golfplatz.

Nahe Shillong liegen Attraktionen wie die Elephant-Wasserfälle und die heiligen Haine der Khasi sowie der von Kiefern umsäumte Umiam See mit Hotels, Boots- und Tauchtouren. Am Weg parken drei bunt bemalte Lastwagen: Einer mit Jesus über dem Frontfenster, einer mit einem Hindu-Gott und der dritte mit einem Hahn, das Symbol für Khasi-Riten. Im kleinen Meghalaya leben nur drei Millionen Menschen. Etwa 86 Prozent sind Adivasi, wie sich die indigene Bevölkerung nennt, die wichtigsten Stämme Khasi und Garo.

Doch nicht nur Naturliebhaber zieht es nach Meghalaya: Sportliche Urlauber reizen die vielen Tropfsteinhöhlen. Veranstalter organisieren Caving-Touren mit Klettern, Kriechen, Waten, Floßfahrt. Wissenschaftler aus Deutschland entdecken hier häufig neue unterirdische Gänge und Grotten. Experten der "Arbeitsgemeinschaft Höhle und Karst Grabenstetten" in Baden-Württemberg waren schon oft im "Land der Wolken", wie Meghalaya auch heißt, und gehen von 1 200 Höhlen aus. In vielen leben Fledermäuse, riesige Spinnen, Krebse und blinde Fische. Die längsten unterirdischen Räume - viele von Flüssen durchströmt - messen gut 20 Kilometer.