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Mit Tricks durch die fremde Welt der Buchstaben

Von Daniel Rademacher 28.04.2010, 10:03

Mainz/Ludwigshafen/dpa. - Die Lesebrille vergessen, eine schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung oder andere Ausreden: Analphabeten legen häufig aus Scham eine beachtliche Kreativität an den Tag, damit ihr Problem nicht auffliegt.

Auf rund vier Millionen schätzt der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung die Zahl der Menschen in Deutschland, die so schlecht lesen und schreiben können, dass sie ohne Tricks und fremde Hilfe nicht klarkommen. Im Bundesland Rheinland-Pfalz dürfte die Zahl demnach bei rund 200 000 liegen. Doch in vielen Städten gibt es Hilfsangebote, wie eine dpa-Umfrage ergab.

«Häufig haben Betroffene auch eine Gewährsperson, die für sie etwa das Ausfüllen von Formularen oder das Lesen von Behördenbriefen übernimmt», erläutert Markus Höffer-Mehlmer, der an der Universität Mainz das Forschungsprojekt «Alphabetisierung und Bildung» (AlBi) leitet. Das vom Bundesbildungsministerium mit rund zwei Millionen Euro geförderte Forschungsvorhaben sucht einerseits nach neuen Angeboten für Betroffene, zugleich aber auch nach neuen Fortbildungs- und Qualifizierungsmethoden für Kursleiter, Mitarbeiter von Behörden, Beratungsstellen, sozialen Diensten und Bildungseinrichtungen.

Eine spezielle Ursache für Analphabetismus lässt sich nach Einschätzung des Erziehungswissenschaftlers nicht ausmachen. «Es kommt meist ein ganzes Bündel zusammen», betont er. «Häufig kann bei Analphabeten ein ungünstiges familiäres Umfeld festgestellt werden, in dem psychosoziale Probleme und Vernachlässigung eine große Rolle spielen.» Auch Sprach- oder Wahrnehmungsprobleme können nach Worten Höffer-Mehlmers dazu führen, dass die Lese- und Schreibfähigkeit trotz eines regulären Schulbesuchs nicht oder nur extrem schlecht ausgebildet wird.

Menschen wie Elfriede Haller setzen sich nicht nur dafür ein, dass Analphabeten sich in der Welt der Buchstaben zurechtfinden. Sie hilft Betroffenen auch bei der Bewältigung des Alltags. «Ich weiß gar nicht, wie viele Verträge ich schon für Kursteilnehmer gekündigt habe», erzählt die Dozentin der Volkshochschule Ludwigshafen aus der Praxis. Sie bietet seit mehr als 20 Jahren solche Veranstaltungen für Analphabeten an und sitzt auch im Vorstand des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung.

«Die Kurse gehen weit über das bloße Vermitteln von Lese- und Schreibkenntnissen hinaus», betont sie. Die Gruppen seien stets sehr unterschiedlich zusammengesetzt, und auch die Bedürfnisse der Teilnehmer seien in aller Regel immer wieder anders. Da kann es dann schon einmal sein, dass die Lektion kein Text aus einem Lehrbuch ist, sondern die Antwort auf einen echten Liebesbrief oder eine private SMS. Das liege vor allem daran, dass kaum erwachsenengerechtes Lehrmaterial vorhanden sei.

Ähnliche Angebote gibt es beispielsweise an der Volkshochschule Kaiserslautern unter dem Namen «Lesen und Schreiben von Anfang an» bei der VHS direkt, aber auch bei sozialen Einrichtungen in der Region. Zu den VHS-Kursen werden die Teilnehmer zum Teil von Behörden geschickt, «etwa von der Arbeitsagentur oder vom Jugendamt», wie der zuständige Fachbereichsleiter Rolf Wedeking sagt. An der VHS direkt gebe es derzeit zwei Kurse mit je etwa einem halben Dutzend Teilnehmer. «Es ist sehr sehr schwierig, die Menschen zu erreichen», sagte Wedeking. Da sie nicht lesen könnten und oft eine Hemmschwelle hätten, sich zu «outen», seien sie oft darauf angewiesen, dass sie jemand aus dem Umfeld zu einem solchen Kurs schicke.

Ziel des Kurses sei es nicht unbedingt, dass der Teilnehmer am Ende perfekt lesen und schreiben könne. «Das kommt vielleicht manchmal vor», sagte Wedeking. «Viele sind aber schon froh, wenn sie sich danach besser in ihrem Alltag zurechtfinden.» Schätzungen zufolge können in Kaiserslautern zwischen 1000 und 4000 Menschen nicht lesen und schreiben.

An der VHS LUDWIGSHAFEN werden derzeit 17 Kurse mit insgesamt etwa 140 Teilnehmern angeboten. Der größere Teil der Teilnehmer sind Migranten, wie VHS-Leiterin Sabine Heiligenthal sagt. Diese könnten oft weder in Deutsch noch in ihrer Heimatsprache lesen und schreiben. Oftmals müssten in den Kursen erst einmal ganz grundsätzliche Fähigkeiten gelernt werden, etwa die Konzentration auf ein Thema. «Zunächst geht es um das Lernen lernen», sagt Heiligenthal. Einige Teilnehmer werden von Behörden zu den Kursen geschickt, der Großteil komme aber von sich aus.

«Wir haben ehemalige Teilnehmer, die als Botschafter für uns aktiv sind», sagt Heiligenthal. Die erreichten die Analphabeten am besten und könnten diese auch motivieren. Bei den Kursen geht es mit den Teilnehmern dann auch raus, etwa in Supermärkte oder in die

Bundesverband Alphabetisierung: www.alphabetisierung.de

VHS-Lernportal (Kurssuche bundesweit): dpaq.de/kXQlj

Wenn Menschen über keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse verfügen, weil sie - wie etwa in Entwicklungsländern - nicht in der Lage sind, eine Schule zu besuchen, spricht man von primärem Analphabetismus. In Ländern wie Deutschland ist hingegen meist von funktionalem Analphabetismus die Rede: Funktionale Analphabeten sind trotz Schulbesuchs nicht in der Lage, ihre Lese- und Schreibkenntnisse im Alltag 'funktional' einzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedliche Kompetenzen notwendig sind. Auch unterliegt die Alphabetisierung einem zeitlichen Wandel: Genügte es vor rund 150 Jahren, seinen Namen schreiben zu können, sind die Anforderungen heute völlig andere.