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Sucht Sucht: Warum Männer immer wieder zum Alkohol greifen

Von Bärbel Böttcher 29.05.2015, 08:07
Dr. Lukas Forschner ist Chefarzt der Suchtklinik „Alte Ölmühle“ in Magdeburg.
Dr. Lukas Forschner ist Chefarzt der Suchtklinik „Alte Ölmühle“ in Magdeburg. Andreas Stedtler Lizenz

Halle (Saale) - Bei Thomas Schmidt (Name geändert) fängt es mit billigem Wein an. Den kauft die Clique im Tante-Emma-Laden auf dem Dorf. „Und dann haben wir den starken Mann heraushängen lassen“, sagt der heute 31-Jährige. Schon damals spürt er, dass der Alkohol ihm hilft, Sorgen zu vergessen oder Kränkungen wegzustecken. Zum Beispiel wenn die Mädchen über ihn lachen. Thomas Schmidt wiegt 102 Kilogramm und ist, wie er es nennt, „nicht gerade angesagt“. Wenn er das entsprechende Quantum Alkohol intus hat, machen ihm die dummen Sprüche aber nichts mehr aus.

„Die Geschichte einer Suchterkrankung beim Mann beginnt meistens in der Jugendzeit“, sagt Dr. Lukas Forschner, Chefarzt an der Fachklinik „Alte Ölmühle“ in Magdeburg. Da gehe es darum, seine männliche Identität zu finden, seinen Platz in der Gruppe. „Junge Männer erleben sich unter Alkohol oder Drogen kompetenter, kommunikativer“, fügt der Psychotherapeut hinzu. Das seien häufig Einstiegsmomente in eine Sucht.

Die Alkoholiker, die in der Fachklinik behandelt werden, sind in der Regel zwischen 35 und 55 Jahre alt. „Inzwischen kommen auch schon viele Jüngere“, sagt Forschner. Doch ob jung oder alt - sie alle verbinde das Unvermögen, eigene Gefühle wahrzunehmen, Gefühle auszudrücken und Konflikte austragen zu können. „Sie alle haben Schwierigkeiten, über sich selbst nachzudenken und sich mitzuteilen“, sagt Forschner. Und das werde durch Alkohol kompensiert. „Die erste Wirkung des Alkohols ist ja, dass man gelöster wird, dass das Selbstwertgefühl steigt und alles leichter wird. Und daran kann man sich gewöhnen“, betont der Arzt.

Sicher, so sagt fügt er hinzu, können auch Frauen alkoholabhängig werden. „Aber Frauen trinken erstens seltener und wenn, dann nicht so große Mengen. Und zweitens stehen bei ihnen andere Themen an. Sie müssen beispielsweise lernen, auch einmal Nein zu sagen.“ Aber die Frage der Identität spiele nicht so eine Rolle. Das sei ein typisches Männerthema. Und so ist es auch kein Zufall, dass zwei Drittel aller Alkoholabhängigen Männer sind.

Forschner verweist darauf, dass in Europa der meiste Alkohol herstellt und auch der meiste Alkohol getrunken wird. Und interessanterweise werde die Werbung dafür fast ausschließlich auf Männer ausgerichtet. „Bleib wie dein Bier“, heißt es beispielsweise auf Plakaten, die einen Mann mit Bierglas in der Hand zeigen. Und abwechselnd wird hinzugesetzt: natürlich, frisch, bodenständig, froh. Alles positiv besetzte Eigenschaften. „Das beste am Fußball ist das Anstoßen“, lautet die Botschaft eines anderen Plakates. Zu sehen ist eine Männerrunde beim Biertrinken. Als „Gaumenfreunde“ werden die biertrinkenden Männer im Gras auf einen dritten Plakat bezeichnet. „Da wird das Bedürfnis nach Gemeinschaftserlebnissen angesprochen“, sagt Forschner. Das andere extrem sei der Mann, der an einem einsamen Strand allein sein Bier trinkt. „Eine Frau würde da einfach lächerlich wirken.“

Und dennoch, nicht jeder Mann wird gleich zum Alkoholiker. Es spielen noch individuelle Komponenten eine Rolle.

Bei Thomas Schmidt kommt da einiges zusammen. Er bricht kurz vor dem Abitur die Schule ab, und nimmt auch keine Lehre auf. Seine Eltern sind ihm in dieser Situation keine Hilfe. Der Vater ist selbst schwerer Alkoholiker. Mit ihm kann er seine Probleme nicht besprechen. Das geht allein mit der Mutter. Doch die ist krank und stirbt 2005 an einer schweren Krankheit. „An ihrem Todestag habe ich mir zum ersten Mal eine Kiste Bier gekauft und an einem Abend ausgetrunken. Das hat geholfen, den Schmerz zu ertragen“, erzählt er. Auch danach hat der junge Mann Ärger grundsätzlich weggespült. Mit Bier. Mit Wein. Und später dann auch mit härteren Sachen. „Der Alkohol ist mein Freund geworden“, sagt Thomas Schmidt. Er wird zum Quartalssäufer, baut ein altes Holzfass zur Bar um und sammelt darin Alkohol. „Immer wenn das Fass voll war, ging es los.“

„Wer regelmäßig trinkt, gewöhnt sich an den Alkohol“, sagt Forschner. Stoffbedingte Toleranzentwicklung heißt der Fachbegriff. „Das bedeutet, ich brauche irgendwann mehr von dem Stoff, um die gleiche Wirkung zu erzielen“, erklärt der Arzt. Auch so einschneidende Erlebnisse wie der Tod eines nahen Angehörigen, Arbeitslosigkeit oder eine Trennung könnten zur Erhöhung des Konsums führen. „Irgendetwas wird nicht verarbeitet, sondern es wird mehr getrunken.“

Filmszenen liefern falsche Vorstellungen

Forschner erinnert in diesem Zusammenhang an eine typische „Tatort“-Sequenz. „Wenn etwas passiert, was negative Gefühle hervorruft, dann zeigt die nächste Szene die Kommissare in der Kneipe. Es wird erst mal ein Schnaps getrunken.“ Dahinter stecke die Botschaft: Ich kann schwierige Gefühle gut mit Alkohol bewältigen, sagt Forschner. Das sei auch in der Realität so. „Wenn ich das aber öfter so handhabe, lerne ich nicht mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen. Ich lerne vielmehr, dass das Alkoholtrinken eine gewisse Lösung darstellt.“

„Zur Sucht“, so sagt der Mediziner, „gehört allerdings auch, dass die auslösenden Gründe für den Konsum mit zunehmender Dauer wie im Nebel verschwinden.“ Es werde um des Trinkens willen getrunken und der Mann bewege sich dort, wo er dazu Gelegenheit findet. Anders ausgedrückt: Er geht zwar zum Fußballverein, hat im Kopf aber den Gedanken, dass er dort Trinken kann. Und je länger das so gehe, desto mehr trete der Fußball in den Hintergrund.

Nicht wenige Männer suchen dabei den Rausch. „Beim Rausch geht es darum, sich ein Stück von sich selbst zu lösen, seine Hemmungen fallen zu lassen, Dinge zu tun, vor denen ich sonst zurückschrecken würde“, sagt Forschner. Er sieht darin das Bedürfnis aus einem doch sehr genormten Leben auszubrechen, sich Luft zu verschaffen. „Vielleicht“, so meint er, „ist das auch ein Stück weit legitim und notwendig.“ Die Frage sei nur, gibt es noch ein Erleben ohne Alkohol? „Wenn der Alkohol die Kontrolle übernimmt, dann ist das kein selbstbestimmtes Leben mehr.“ Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass bei Männern meistens dann, wenn es um Gewalt, Aggression, ja auch um Straftaten bis hin zur Körperverletzung geht, auch Alkohol eine Rolle spielt.

Auch Thomas Schmidt betreibt das Trinken bis zur Exzessivität. Mit verheerenden Folgen. 2008 hat er im Vollrausch einen ersten Verkehrsunfall. Er fährt mit seinem Auto frontal gegen einen Baum. Ein Passant holt ihn in letzter Minute aus dem brennenden Wagen. Er überlebt schwer verletzt. Doch eine Lehre ist ihm das nicht. Zumal er nicht einmal den Führerschein verliert. Er trinkt weiter und baut 2011 einen zweiten, diesmal nur leichten Unfall. Mit 2,1 Promille streift er ein anderes Auto. Es entsteht kein großer Schaden. Doch diesmal ist der Führerschein weg. Thomas Schmidt trinkt weiter. Und fährt auch weiter. Mit einem geklauten Auto baut der den dritten Unfall. Er fährt damit in einen Bach, lässt es liegen und geht nach Hause. Seine Erinnerung setzt erst wieder ein, als die Polizei ihn im Schlafanzug zu einer Blutentnahme bringt. In dieser Situation fasst er den Entschluss, aufzuhören. An ihm hat er bis heute eingehalten.

Wegen des Diebstahls wird Thomas Schmidt neben einer Geld- zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Ausgesetzt zu zwei Jahren Bewährung. Allerdings unter der Voraussetzung, dass er sich einer Therapie unterzieht. Die hilft ihm denn auch, mit der Sucht umzugehen und Situationen zu bewältigen, in denen er früher zur Flasche gegriffen hat.

Eingeständnis dauert oft lange

Es dauert oft lange, bis sich ein Mann eingesteht, dass er Hilfe braucht. „Suchterkrankungen kratzen am Selbstwertgefühl. Und immer, wenn das angekratzt wird, entsteht Scham. Und das ist ein sehr unangenehmes Gefühl“, sagt Forschner. Letztlich werde verharmlost und verniedlicht. Getreu dem Motto: Die anderen trinken ja auch. Was häufig auch so erlebt wird, da der alkoholkranke Mann, sich auch von anderen viel trinkende Männer umgibt. Und auch das Umfeld schaue lange weg. Niemand wolle ja einen anderen beschämen.

Thomas Schmidt hat sein Leben stark geändert. Er spricht von einer persönlichen Inventur, will Ordnung schaffen. Das ist schwer. Zumal er keine Berufsausbildung hat und an den Spätfolgen seiner Verletzungen leidet. „Die Therapie hat mir die nötigen Werkzeuge an die Hand gegeben“, sagt er. Trotzdem gehöre ein starker Wille dazu. Und er ist sich über eines völlig im klaren: Alkoholismus ist keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit. Geheilt werden kann sie nicht. (mz)

Viele Männer trinken mehr, als ihnen gut tut.
Viele Männer trinken mehr, als ihnen gut tut.
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