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Film "24 Wochen" Film "24 Wochen" über Spätabtreibung "Ein krankes Baby abtreiben? Eine der schwierigsten Fragen überhaupt"

Von Isabell Wohlfarth 23.09.2016, 14:32
Die Entscheidung stellt Astrid und Markus als Paar auf eine Zerreißprobe.
Die Entscheidung stellt Astrid und Markus als Paar auf eine Zerreißprobe. © Friede Clausz/Neue Visionen Filmverleih

Wie fühlt sich das an, wenn man über Leben und Tod eines anderen Menschen entscheiden muss? Im neuen Kinodrama „24 Wochen“ (Regie: Anne Zohra Berrached ) stehen die beiden Hauptfiguren Astrid (Julia Jentsch) und Markus (Bjarne Mädel) genau vor dieser Frage: Im 6. Schwangerschaftsmonat erfahren die werdenden Eltern, dass ihr Kind höchstwahrscheinlich Trisomie 21 und auf jeden Fall einen schweren Herzfehler hat. Sie müssen sich der Situation stellen und gemeinsam überlegen, welchen Weg sie gehen wollen. Und das heißt konkret: Sie müssen entscheiden, ob sie das Kind bekommen oder es abtreiben.

Frage nach Verantwortung und Schuld

Der feinfühlig inszenierte und doch schonungslose Film begleitet die Protagonisten bei ihrer emotionalen Tour de Force. Vom ersten Schock, über die Ratlosigkeit und die Zuversicht bis zur Entscheidung – die nur sie alleine treffen können. Und kreist dabei schmerzhaft um die großen Fragen nach Verantwortung, Selbstbestimmung und Schuld.

Die große Mehrheit der Paare, die eine solche Diagnose erhalten, entscheidet sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Geredet wird darüber kaum. Wir haben mit Dr. Angelika Dohr von der pro Familia Münster gesprochen. Die Gynäkologin und ärztliche Psychotherapeutin begleitet an der Uniklinik Münster Paare, die mit so einer Diagnose umgehen müssen.

Wie helfen Sie Paaren, die gerade die Diagnose bekommen haben, dass ihr Baby krank ist oder eine Behinderung hat?

Angelika Dohr: Wir von der pro Familia Münster arbeiten eng mit der Pränatal-Abteilung der Uniklinik zusammen und sitzen auch vor Ort im Krankenhaus. Zu uns kommen die Eltern deshalb direkt nachdem sie die schwierige Nachricht erhalten haben. Dann ist es erst einmal wichtig, für sie da zu sein. Von einer Sekunde auf die nächste sind die Paare in einer der schwierigsten Situationen, in die man kommen kann. Es ist eine richtige Schocksituation. Es geht zunächst darum, das Unfassbare auszuhalten. Und zu schauen, was den Betroffenen durch den Kopf geht. Sie sollen sich trauen, alle Gedanken bewusst auszusprechen, alles auf den Tisch zu bringen.

Gibt es denn Paare, die gleich zu Beginn wissen, was sie wollen?

Das gibt es ganz selten. Manchmal merkt man allerdings schon eine Tendenz. 

Wenn der erste Schock vorüber ist, wie geht es dann weiter?

Es ist ja gesetzlich vorgeschrieben, dass die Paare frühestens nach drei Tagen Bedenkzeit eine Entscheidung fällen. Eine psychosoziale Beratung wird empfohlen. Die Betroffenen kommen also in der Regel wieder zu mir. Dann sprechen wir beide möglichen Wege durch: was es bedeutet kann, das Kind zu behalten und wie ein Abbruch aussehen würde. Je nachdem, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist, werden verschiedene medizinische Verfahren notwendig.

Es tauchen natürlich viele Fragen auf. Information ist in diesem Zusammenhang das Wichtigste. Doch die Betroffenen sind ja auf dem medizinischen Gebiet Laien und häufig überfordert mit den Fakten. Was genau heißt es denn, wenn ein Baby einen Herzfehler hat? Wie liefe ein Abbruch genau ab? In unserer Klinik stehen deshalb Kinderärzte, Gynäkologen und Seelsorger den Eltern ständig zur Verfügung. Sie können Fragen stellen in alle Richtungen. Auch Vermittlungen zu Selbsthilfegruppen sind möglich.

Von einer Spätabtreibung spricht man, wenn der Abbruch nach der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche erfolgt. Regulär sind in Deutschland nur Abbrüche nur bis zur 12. Woche erlaubt. Danach sind sie nur legal, wenn zum Beispiel die „seelische oder körperliche Gesundheit der Schwangeren“ durch die Fortsetzung der Schwangerschaft stark gefährdet ist. Zwischen der Mitteilung der Diagnose und dem Abbruch müssen außerdem mindestens drei Tage liegen.

In der Bundesrepublik brechen nach geschätzten Zahlen etwa 90 Prozent der Frauen, bei deren Kind eine Fehlbildung diagnostiziert wurde, nach der 12. Woche die Schwangerschaft ab. Laut Statistischem Bundesamt wurden in Deutschland im Jahr 2015 insgesamt 99.237 Kinder abgetrieben. Darunter waren 634 Spätabtreibungen.

Wenn ein Fötus bereits so weit entwickelt ist, dass er außerhalb des Mutterleibs theoretisch überlebensfähig wäre, wird vor dem Schwangerschaftsabbruch ein so genannter Fetozid durchgeführt. Dabei wird mit einer Spritze durch den Bauch zunächst ein Beruhigungsmittel in die Nabelschnurblutgefäße gespritzt und schließlich Kaliumchlorid injiziert. Innerhalb weniger Minuten tritt dann der Herzstillstand ein. Dann wird der tote Fötus regulär geboren.

Bei den Verfahren der Pränataldiagnostik wird beim ungeborenen Kind nach Hinweisen auf Chromosomenabweichungen, Erbkrankheiten und Fehlbildungen geschaut. Eltern erfahren so heute oft sehr früh von möglichen Behinderungen. Die Diagnostik gibt zwar die Möglichkeit, weitere Tests durchzuführen und - falls möglich - bereits Therapien im Mutterleib zu unternehmen, kann aber zum anderen auch nur die Wahrscheinlichkeit anzeigen, dass es zu einer Einschränkung kommt. Ob das Kind dann tatsächlich mit Fehlbildungen auf die Welt kommt, kann nicht hundertprozentig geklärt werden.

Kann man überhaupt etwas raten bei so einer immensen Entscheidung?

Nein, man kann auf keinen Fall etwas raten. Nur die Eltern können eine für sie tragbare Entscheidung treffen, sie müssen schließlich auch damit leben. Sie müssen an den Punkt kommen, zu sagen: Das ist für uns die richtige Entscheidung. Die Lebenssituation der Betroffenen ist ja immer individuell. Was ist für uns zumutbar? Und was wünsche ich mir für mein Kind? Diese Fragen stellen sich jedem Paar neu. 

Wichtig ist mir aber immer, nicht zu urteilen und den Paaren zu sagen: Es gibt kein Richtig und kein Falsch in dieser Situation.

Das sehen viele sicher anders, gerade bei diesem Thema tun sich in der Gesellschaft Fronten auf…

Das stimmt. Die Betroffenen stecken gleich in einem doppelten Dilemma: Es ist gesellschaftlich nicht gern gesehen, ein Kind mit Behinderung zu bekommen, aber auch nicht, einen Abbruch vorzunehmen.

Die Paare, die sich für einen Abbruch entscheiden, haben meist das Gefühl, dass sie es keinem erzählen können. Sie stoßen möglicherweise auf Gegenwind und Unverständnis. Sie müssen Vorwürfe aushalten wie: „Wie kannst du dein Kind umbringen?“ Doch natürlich werden solche Urteile von außen aus einer emotional unbeteiligten Situation heraus getroffen. Viele Paare hatten zuvor auch eine ganz bestimmte Meinung zu dem Thema und entscheiden dann doch anders. Die wirkliche Dimension der Entscheidung erkennt man oft erst, wenn man selbst in der Situation ist. Sogar streng gläubige Menschen entscheiden sich manchmal für die Beendigung der Schwangerschaft, um dem Kind ein zu kurzes leidvolles Leben zu ersparen.

Ich finde es sehr gut, dass es einen Film wie „24 Wochen“ gibt. Solch ein Thema muss einen emotional packen. Dann hören hoffentlich auch die Urteile auf.

Wie geht es weiter, wenn sich Eltern für einen Abbruch entscheiden?

Stimmt es, dass nicht jede Klinik beziehungsweise jeder Arzt verpflichtet ist, einen Abbruch durchzuführen?

Es ist grundsätzlich so, dass zunächst immer die Pränatal-Mediziner entscheiden, ob überhaupt die rechtliche Grundlage für einen Abbruch vorliegt. Das heißt, ob die seelische oder körperliche Gesundheit der Schwangeren stark eingeschränkt werden würde, wenn sie das Kind bekommt. Wenn das so befunden wird, gibt es die medizinische Indikation für einen Abbruch. Bei uns an der Uniklinik Münster entscheidet immer ein Ärzteteam gemeinsam.

Es gibt zum Beispiel auch Fälle, in denen die Ärzte oder Kliniken keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch sehen. Die Ärzte in katholischen Krankenhäusern dürfen zum Beispiel keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Und grundsätzlich steht es auch jedem Arzt persönlich frei, ob er einen Schwangerschaftsabbruch durchführt. 

Eine Gratwanderung wird es aber immer bleiben, oder?

Ja. Und das dürfen wir nicht auf den Schultern der Frauen abladen. Wir müssen als Gesellschaft überlegen, wo unsere moralischen Grenzen sind und einen Diskurs starten. Gerade im Hinblick auf die neuen Diagnoseverfahren, die gentechnischen Fortschritte. Bald schon könnten Tests ganze Genome untersuchen und etwa herausfinden, ob ein Kind später Krankheiten bekommen könnte. Was schützt dann noch davor zu sagen: Ich will ein anderes Kind? Das Gendiagnostikgesetz in Deutschland bietet an dieser Stelle noch Schutz, aber dennoch müssen wir jetzt anfangen, solche Dinge länderübergreifend zu diskutieren.

Treffen Sie manche Paare auch wieder, nachdem die ihre Entscheidung getroffen haben?

Ja, das passiert nicht selten. Gerade bei einer erneuten Schwangerschaft kommen Paare oft wieder zu mir. Sie haben natürlich besonders viel Angst. Ich gebe ihnen Techniken an die Hand, wie sie damit umgehen können.

Kommen auch Paare, die sagen: „Es war die falsche Entscheidung“?

Das gibt es auch, aber nach ausführlicher Beratung selten. Dennoch haben manche Frauen oder Männer manchmal den Gedanken: „Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlimm gewesen“. Entscheidungen, die man in existenziellen Situationen getroffen hat, malt das Gehirn manchmal nachträglich in rosaroten Wolken. Dann schauen wir, was zum Zeitpunkt der Entscheidung die Gründe waren, begeben uns also noch einmal zurück in diese Situation. Manche Paare brauchen auch noch einmal später Zeit zu trauern, denn man darf nicht vergessen, trotz der schweren Entscheidung war es ihr Wunschkind.