Bruce Springsteen in der DDR Bruce Springsteen in der DDR: Konzert in Berlin 1988

Berlin - Der Gedanke schwebt über den Köpfen vor der Bühne, als der Mann oben vom gelobten Land erzählt, aus dem jeder jederzeit fortgehen kann, wenn ihn das Mädchen verlässt oder der Job zu öde wird. Bruce Springsteen, der Kerl in der knappen Weste, singt vom Waynesboro County in Utah. Aber hier auf dem weiten Feld der Radrennbahn Weißensee verstehen sie ihn alle ganz genau. „Ein Wort nur von oben“, erinnert sich Jens Hamann, der damals aus einem kleinen Örtchen im Harz in die Hauptstadt der DDR getrampt war, „und die Massen wären zur Mauer marschiert.“
Springsteen sagt das Wort nicht bei seinem ersten Konzert hinter dem Eisernen Vorhang, damals am 19. Juli vor 30 Jahren in Berlin. Aber er ist ganz kurz davor.
Bruce Springsteen in der DDR: „Ich bin nicht hier für oder gegen eine Regierung“
Am Nachmittag hatte der Superstar, den die Fans nur den „Boss“ nennen, bemerkt, dass ihn seine Gastgeber von FDJ, SED und Stasi zu instrumentalisieren versuchen. „Konzert für Nikaragua“ haben sie seinen Auftritt genannt. Und ein Banner mit der Aufschrift „Nikaragua im Herzen“ über die von einer Magdeburger Firma zusammengeschraubte Bühne gespannt.
Nun ist Bruce Springsteen sicher kein Freund der Administration in Washington, die einen unerklärten Geheimdienstkrieg gegen die Sandinisten in Managua führt. Doch ein Anti-Amerikaner ist der Mann aus Freehold in New Jersey auch nicht. Springsteen lässt das Plakat über der Bühne abnehmen. Und er ruft seinen aus Westberlin mitgebrachten Fahrer Georg Kerwinski heran, um sich von ihm einige klärende Sätze auf Deutsch aufschreiben zu lassen: „Ich bin nicht hier für oder gegen eine Regierung“, will er sagen, „ich bin hier, um Rock ’n’ Roll zu spielen - in der Hoffnung, dass eines Tages alle Mauern umgerissen werden.“
Offiziell 160.000, 200.000 oder sogar mehr als 300.000 Menschen stehen auf dem weitläufigen Gelände, genau weiß es niemand. Das sind 2,5 Prozent aller erwachsenen DDR-Bürger.
Jeder 40. Ostdeutsche ist hergepilgert, an einem gewöhnlichen Dienstag, mit dem Zug, zu Fuß, getrampt oder mit dem Fahrrad, aus Aue, Halle, Rostock und Görlitz. Es ist die größte freiwillige Versammlung ihrer Bürgerinnen und Bürger, die die Arbeiter- und Bauernrepublik je erlebt hat. Die Sonne brennt erbarmungslos, die Versorgung ist katastrophal. Die Stimmung dagegen blendend, wie sich Jacqueline Elsner aus Eisleben erinnert, die sich hatte krankschreiben lassen, um nach Berlin zu trampen. „Wir dachten doch nie, dass wir das mal erleben.“
Punkt 19 Uhr steigt der Boss mit „Badlands“ in das Menschenmeer, die tiefere Botschaft als Liebeslied getarnt: „Ich glaube an die Hoffnung und ich bete für den Tag, der mich über dieses Ödland erhebt.“ Staub steht in der Luft, der Sound ist einziger Matsch, ganz hinten kommt nur ein Zirpen an. Aber niemand muss hören oder Englisch verstehen, um zu wissen, worum es hier geht: Freiheit, keine Grenzen mehr, der Sehnsucht folgen und in den 49er Mercury steigen können, von dem Springsteen in „Cadillac Ranch“ singt. Und einfach wegzufahren in den Sonnenuntergang. Ja, nach Westen.
Bruce Springsteen gibt Konzert in der DDR: Panik hinter der Bühne
Hinter der Bühne ist inzwischen Panik ausgebrochen. Marcel Avram, der Konzertveranstalter von drüben, der Springsteen den Wunsch erfüllt hat, im Osten zu spielen, hat von dem Notizzettel gehört, der in Springsteens Hosentasche steckt, während er „The River“ singt, das an diesem Tag wie ein Gleichnis auf die austrocknende, ausblutende, längst aller Illusionen beraubte DDR klingt. Er steckt da auch noch, als 300.000 Kinder des real-existierenden Sozialismus frenetisch „Born in the USA“ rufen. Die E-Street-Band spielt wie ein Uhrwerk, die Massen feiern, die mit FDJ-Hemd und die ohne; die mit den selbstgemalten US-Bannern und die, die solche staatsfeindlichen Symbole eigentlich einsammeln sollten.
Es ist unmöglich in diesen Stunden, in denen Weißensee schon nicht mehr richtig DDR ist. Niemand hier hätte eine Eintrittskarte gebraucht. Eine Stampede hat die Kontrollbüdchen der FDJ einfach beiseite getreten.
Keiner könnte die Menge aufhalten, wenn Springsteen sie zum Marsch auf die Mauer riefe. Hinter der Bühne brodelt es, weil Avram einen solchen Aufstand fürchtet, sollte der Boss wirklich etwas gegen den antifaschistischen Schutzwall sagen, wie ihn die DDR offiziell nennt. Manager Jon Landau verspricht, Springsteen aufzuhalten - diplomatisch schlägt er vor, das Wort „Mauern“ durch „Barrieren“ zu ersetzen, das er für weniger anstößig hält. „Es war eine Frage des Instinks.“
Während die Band weiterspielt, ruft Landau Springsteen zum Bühnenrand. Georg Kerwinski versucht ihm im tosenden Lärm beizubringen, wie er „Barriers“ deutsch aussprechen soll. „Don’t say Mauern! No walls!“, habe er ihm ins Ohr gebrüllt, „say Bar-hee-Air-en!“ Bruce Springsteen reckt schließlich den Daumen. Verstanden.
Sekunden später beginnt Pianist Roy Bittan eine einfache Melodie in G-Dur zu spielen. Springsteen hängt sich die Gitarre über den Rücken und nimmt das Mikrophon in die Hand. „Es ist schön, in Ostberlin zu sein“, sagt er, und das mit der Regierung sagt er auch. Im Backstage-Bereich halten sie die Luft an, die FDJ-Leute, die von der Plattenfirma, Mielkes Männer und Avrams. Die Rede endet mit der „Hoffnung, dass eines Tages alle Bar-hee-Air-en abgerissen werden“. Uff.
Die Band schwenkt in Dylans Klassiker von den „Chimes of Freedom“, den Glocken der Freiheit. Fünf Minuten lang kann sie jeder über den Platz klingen hören.
Selbst Egon Krenz, der hinter der Bühne steht. „Gegen Barrieren sind wir ja auch“, versichert das Politbüromitglied. Das DDR-Fernsehen wird Springsteens Barrieren-Satz später dennoch aus allen Übertragungen tilgen.
Doch es ist zu spät, die Glocken klingen immer weiter. Bruce Springsteen ist längst fort, weg, zurück in New Jersey, da findet der Jubel, der ihm auf der Radrennbahn entgegengebrandet ist, sein Echo: Ein Jahr, zwei Monate und 22 Tage später steigt der gleiche Schrei nach Freiheit aus dem Hof der Prager Botschaft. (mz)