Anschlag in Berlin Anschlag in Berlin: Ein Jahr voll Wut und Trauer - die Geschichte zweier Terroropfer

Berlin - In schnellen, straffen Schritten läuft Andreas Schwartz voran, auch wenn mit jedem Meter ein Stück Angst zurückkehrt. Er schiebt die Fäuste in die Taschen, es ist alles so wie vor einem Jahr, rechts und links die Holzbuden, die bunten Auslagen, die Tannenbäume.
Ein gelblicher Schein liegt über dem Breitscheidplatz; Lichterketten spannen sich oben; es riecht nach gebrannten Mandeln und Bratwurst, es ist alles wie jedes Jahr. Schwartz geht weiter. Er schläft wieder schlechter dieser Tage, nachts schreckt er oft schweißnass hoch, die Bilder damals schieben sich in seine Träume. Auch tagsüber suchen sie ihn heim, Blaulicht, das über zerschmetterte Holzhütten tanzt, leblose Körper da und dort, auf dem Asphalt ein junger Mann mit gebrochenen Beinen.
Schwartz sagt, es gehe ihm nicht besonders gut, gerade in dieser Jahreszeit: „Stellen Sie sich vor, Sie fahren in einen Tunnel und sehen das Ende nicht“, sagt er. „Man sucht Antworten, findet aber keine.“
Schwartz, mit blassem, ovalem Gesicht, Anorak und Käppi, 47 Jahre, war selbst Lastwagenfahrer bis zum 19. Dezember 2016, 20.02 Uhr, seither ist er Attentatsopfer auf der Suche nach einem Sinn in seinem Leben. Er sitzt oft zu Hause in seiner Wohnung in Berlin-Friedrichshain, ein alleinerziehender Vater mit Teenager-Tochter. Bei dem Anschlag verletzte er sich an der Wirbelsäule, so schwer, dass er nicht mehr viel tun kann. „Der Lebensmut, den ich hatte, der ist weg“, sagt er leise. „Wäre meine Tochter nicht da, dann würde ich heute hier nicht mehr sein, das sage ich offen und ehrlich.“
Draußen ist es dunkel, als Petr Cizmar in sein Wohnzimmer tritt, er hastet zwischen übereinandergestapelten Umzugskartons hin- und her, trägt einen Teller in die Küche, wischt Ketchupflecken vom Tisch. David hat hier gegessen, jetzt liegt er in seinem Zimmer quer über dem Bett und guckt Youtube-Videos. Es geht auf 18 Uhr zu, sie sind gerade nach Hause gekommen.
Cizmar, ein schwerer Mann, 39 Jahre, mit kurzem Bart und runden Wangen, Physiker von Beruf, lässt sich in einen Sessel fallen. „Ich verstehe, dass ich jetzt eine wichtige Aufgabe habe: für das Kind da zu sein“, sagt er. „Das ist, was auch der Wunsch meiner Frau wäre.“ Zwölf Menschen hat der Attentäter Anis Amri getötet. Nada Cizmar, 34 Jahre alt, Mutter eines fünfjährigen Jungen, war eine davon.
Andreas Schwartz und Petr Cizmar kennen einander nicht. Es gäbe keine Schnittpunkte in ihren Biografien, hätte Amri nicht den Lkw in die Menge auf dem Breitscheidplatz gelenkt. Schwartz, der sich jetzt auf dem Breitscheidplatz seinen eigenen Ängsten entgegenläuft, bildet eine Gemeinschaft mit Menschen in Brandenburg und Neuss, in Israel, der Ukraine, Polen. Sie haben wenig gemeinsam, weil alle Arten von Menschen auf den Weihnachtsmarkt gehen, Alte, Junge, Reiche, Arme, Linke, Rechte, sie alle stehen nun vor derselben Frage: Wie gelingt das, was Politiker nach Anschlägen immer fordern, sich vom Terror das Leben nicht bestimmen zu lassen?
Wenn Glühweinduft zum Trigger wird
Jetzt ist wieder der 19. Dezember, das Trauerjahr schließt sich. Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Minister, Botschafter werden sich noch einmal in der Gedächtniskirche treffen. Das Mahnmal, ein mit Gold gefüllter Riss in den Stufen, wird im Anschluss enthüllt. Viele Betroffene haben von den Politikern mehr erwartet als festliche Gedenktermine. Enttäuschung hat sich mit der Trauer gemischt. Es ist nicht nur der Anschlag, der sie getroffen hat. Es ist auch die Zeit danach – und wie die Behörden mit ihnen umgegangen sind.
„Es ist zu wenig, was getan wird“, sagt Oliver Hetmanek von der Opferhilfe Berlin, „wobei wir die Menschen immer wieder darauf aufmerksam machen wollen, dass es Einrichtungen gibt, die helfen.“ Wie viele Opfer genau unter den Folgen des Anschlags zu leiden haben, weiß keiner. Die Zahl schwankt zwischen 70 und 100. „Jetzt kurz vor dem Jahrestag melden sich wieder neue Betroffene, und die, die wir schon länger betreuen, suchen vermehrt Unterstützung.“ Manche haben es nicht früher geschafft, Hilfen anzunehmen, oder sie merken erst jetzt, dass etwas nicht stimmt. „Gerade in der Weihnachtszeit gibt es unheimlich viele Trigger“, sagt der Opferberater. Das können Martinshörner sein, Tannenbäume, Glühweinduft, Gewürze. „Diese Dinge können eine Assoziationskette auslösen. Die Leute haben dann den Eindruck: Es ist Weihnachten, aber es fühlt sich belegt an, mit Gefühlen von Ohnmacht, Angst und Befürchtung.“
Eine Frau starb in seinen Armen
Andreas Schwartz hält vor der Gedächtniskirche inne, auf den Stufen flackern rote Grabkerzen. Schwarz starrt in das Lichterfeld, dann steuert tiefer in den Weihnachtsmarkt herein; er zwingt sich dazu. „Ich bin halt so. Um die Angst zu überwinden, muss man die Arschbacken zusammenkneifen.“
Schwartz stand am 19. Dezember 2016 allein an einer Glühweinbude. Er wartete auf einen Freund. Dann sah er den Lkw auf sich zurasen. Er sprang aus dem Weg, stürzte, mit dem Rücken schlug er auf einem Kantholz auf. Was dann geschah, kann er nicht mehr genau sagen, er erinnert sich nur noch an Bruchstücke. Er sagt, er blieb da, um den Verletzten zu helfen; er hat bei der NVA eine Ausbildung zum Rettungssanitäter gemacht. Er erinnert sich an eine Frau, die er in den Armen hielt. Sie riss die Augen auf, sagt er, dann fiel ihr Kopf zur Seite. Sie war tot.
„Warum wird mir das aufgezwungen?"
Am Morgen wachte er in einem zerwühlten Bett auf, noch in der Jacke, der Schlüssel steckte von außen in der Tür. „Ich stand unter Schock“, sagt er; vor lauter Adrenalin habe er keine Schmerzen gespürt. Drei Tage vergingen, bis er zu einem Arzt ging.
Durch einen Riss in seiner Wirbelsäule wird eine Bandscheibe gequetscht und drückt auf Nerven. Er muss jeden Tag starke Schmerzmittel nehmen. Arbeiten kann er nicht mehr. Schwartz liebte seinen Beruf. „Ich hab das immer gerne gemacht. Für das Volk da sein. Dass die Ware da ist und die Leute einkaufen gehen können.“
Er wird jetzt leicht wütend; es gibt vieles, worüber er sich aufregen kann. Der Stress mit den Behörden, die vielen Berichte über Anis Amri in den Medien, die Floskeln der Politiker. Vor ein paar Monaten sagte Innenminister Thomas de Maizière: Man müsse mit der Gefahr des Terrorismus umgehen lernen, darüber ärgert sich Schwartz noch jetzt: „Warum wird mir das aufgezwungen? Warum muss ich das lernen?“, ruft er.
Er fühlt verraten von einem Staat, der ihn erst nicht schützte und dann hängenließ. Er sagt: „Ich habe doch nichts gemacht. Ich habe doch den Lkw nicht auf den Breitscheidplatz bestellt. Was kann ich denn dafür, dass der Staat versagt hat?“
Bei vielen Opfern und Hinterbliebenen sitzt der Groll tief. Wie tief, lässt sich an dem offenen Brief ablesen, der vor einigen Wochen kursierte: „Die Missstände betreffen sowohl die mangelhafte Anti-Terror-Arbeit in Deutschland als auch den Umgang mit uns.“ Den Menschen fehlen schnelle Hilfen und direkte Ansprechpartner, vor allem verstehen sie nicht, weshalb Kanzlerin Merkel ihnen bislang nicht kondoliert hat, nicht persönlich, nicht schriftlich. „Wir sind der Auffassung, dass Sie ihrem Amt nicht gerecht werden“, schreiben sie. Hinterbliebene aller zwölf Familien der Opfer haben unterzeichnet.
„Die Anerkennung von staatlicher Seite war den Menschen wichtig – und die haben sie nicht bekommen“, sagt Gisela Raimund im Landesbüro des Weißen Rings. Auch sie sagt: So konfus, wie die Behörden reagierten, so verwirrend, wie die Zuständigkeiten seien – da sei es kein Wunder, dass die Leute wütend sind.
Hilfe für die Opfer
10 000 Euro haben die Angehörigen als Direkthilfe bekommen, hinzu kamen je nach Fall Schadensausgleichszahlungen, 132 Fälle wurden bearbeitet, alles in allem flossen bis Ende November 1,6 Millionen Euro aus dem Härtefallfonds für Terroropfer. Viel zu wenig, sagt Raimund. Beim Weißen Ring klingelte das Telefon zeitweise ununterbrochen. Die Ehrenamtlichen beraten, begleiten, vermitteln, „die Opfer wissen ja in der Regel gar nicht, wo sie Hilfe bekommen können.“ Haben die Verantwortlichen etwas gelernt für die Zukunft? Gisela Raimund lacht. „Ich mach keine Politikerschelte. Dazu kann ich nichts sagen.“ Der Weiße Ring war eine der wenigen Stellen, die den Opfern überhaupt zur Seite stand. Fühlt sich die Organisation vom Staat alleingelassen? Raimund sagt: „Verstärkter Opferschutz wäre eigentlich Aufgabe des Staates, aber der leistet das nicht. Aus diesem Grund gibt es uns ja.“
Hinterbliebene tauschen sich bei Whatsapp aus
Das Foto von Anis Amri ist gerade wieder fast täglich in den Nachrichten, die Opfer sind seltener zu sehen. Viele fühlen sich vergessen. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die meisten keinen Kontakt zur Presse möchten. Wie soll man trauern, ohne die Geschichten zu kennen? Die Hinterbliebenen sind lose organisiert, sie halten Kontakt in einer Whatsapp-Gruppe. Es gibt eine Sprecherin, eine Frau, deren Vater bei dem Anschlag starb. Wenn man sie anruft, antwortet sie freundlich und höflich, sie spricht von Überforderung. Diese Zeit, wo es auf den Jahrestag zugeht, sei ohnehin eine große Belastung. Und nun kommt eine Flut von Presseanfragen dazu.
Die einen möchten in ihrer Trauer in Ruhe gelassen werden. Andere sind zornig: Die ganze Zeit hat sich keiner nach ihnen erkundigt. Jetzt, wo der 19. Dezember sich nähert, sind sie plötzlich gefragt.
Andreas Schwartz sagt: „Man muss darüber sprechen, sonst geht man vor die Hunde.“ Er sagt, er will kein Mitleid, er will, dass die Leute wissen, wie es ihm geht. „Viele fragen mich, woher ich die Kraft dazu habe. Ich sage: Die Kraft, die muss man sich einfach nehmen.“
Auch Petr Cizmar geht es darum, dass die Menschen erfahren, was so Anschlag eigentlich bedeutet. Die Geschichte aufarbeiten. Den Opfern ein Gesicht geben. „Ich glaube es ist wichtig zu reden. Es ist das Einzige, was ich machen kann“, sagt er. Er blinzelt ins Licht der nackten Glühbirne an der Decke; er sieht müde aus. Er ist im Juli mit dem Kind nach Dresden gezogen; dort hat er eine Stelle gefunden. Vorher lebte er in Braunschweig und hatte einen Leiharbeits-Job als Programmierer in Hildesheim. Die lange Strecke jeden Tag, die prekäre Stelle, all das war für ihn als alleinerziehendem Vater schwer zu vereinbaren, deshalb der hektische Umzug.
Er geht zu einer Kiste und kramt ein Foto hervor, Nada Cizmar war schmal, mit schulterlangen braunen Haaren, auf dem Bild hält sie David im Arm, er ist da noch klein, sie sieht glücklich aus.
Nada und Petr Cizmar stammen aus Tschechien, sie aus Südböhmen, er aus Mähren. Sie war lebhaft, sagt er, fröhlich, hat gerne gestrickt. Als sie ihre Wohnung ausräumten, fanden sie einen angefangenen Pullover für David, „der wurde nicht mehr fertig“, sagt Petr Cizmar, seine Stimme klingt heiser, er legt das Bild auf den Tisch. Das Paar lebte getrennt, sie kamen aber noch gut miteinander aus. Sie war gerade nach Berlin gezogen, dort hatte sie Arbeit bei einer Logistikfirma gefunden. „Sie war erfolgreich“, sagt er, „es ging ihr gut.“
Bittet man ihn, von diesem Tag zu erzählen, klingen seine Antworten wie auswendig gelernt, so oft hat er es schon erzählt. Cizmar rief sie aus dem Auto an, er war unterwegs, um David von der Tagesmutter abzuholen, es war ungefähr zehn vor sechs, sie sprachen über Alltagsdinge: Kann es sein, dass David krank ist? – Nein, alles in Ordnung. Sie war kurz ab, sie war mit Kollegen verabredet. Auf dem Weihnachtsmarkt. „Sie wollte eigentlich nicht, sie wollte lieber Plätzchen backen; sie hatte viel Arbeit zu Hause, aber sie wollte keine Spaßbremse sein.“
Er bringt seinen Sohn ins Bett. In der Nacht sieht er, dass eine Kollegin von Nada ihm über Facebook geschrieben hat: Nada meldet sich nicht, weißt du was? Da sieht er erst, dass der Anschlag geschehen ist. Er versucht, Nada anzurufen, aber das Handy ist aus. Das beunruhigt ihn noch nicht: Ihr Handy war oft leer. Er dachte sich: Ich warte bis morgen, dann meldet sie sich sicher.
Jetzt, knapp ein Jahr später, sitzt er allein in seinem Wohnzimmer und sortiert seine Erinnerungen. Cizmar ist ein eher nüchterner Typ, Naturwissenschaftler eben. Aber er hat nicht vergessen, was nach dem Anschlag geschah, wie er tagelang durch Berlin irrte und nicht wusste, wo Nada war, ob sie lebte.
Die Krankenhaus-Pförtnerin schickte ihn weg
Cizmar guckt schräg nach unten, er sagt: Alles war improvisiert, die Behörden hatten ja noch nie so eine Situation. Er rief die Hotline an, die war nicht zu erreichen. Also fuhr er nach Berlin. Zuerst steuerte er eine Polizeiwache an. Die Polizisten sagten: Rufen Sie die Hotline an. Eine Polizistin wählte für ihn, konnte aber nur eine Vermisstenmeldung aufgeben. Cizmar klingt eher fassungslos als zornig, er sagt: „Das fand ich komisch, dass das in Deutschland so läuft. Dass da eine Leiche liegt, die nicht identifiziert ist. Ich dachte, es ist nicht möglich, dass sie tot ist, sonst würden sie mir doch etwas sagen.“
Er suchte und suchte. Er fuhr zum Krankenhaus, die Pförtnerin schickte ihn weg. Das Bundeskriminalamt hatte eine Nachrichtensperre verhängt. Als Angela Merkel und andere Spitzenpolitiker sich am 22. Dezember zum Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche versammeln, wussten viele Familien noch nicht, dass ihre Lieben tot sind.
Bei Cizmar rief zwei Tage nach dem Anschlag die tschechischen Botschaft an: Der Botschafter sei auf dem Weg zu ihm. Kurz darauf stand auch die Polizei bei ihm vor der Tür und teilte ihm mit, was geschehen war: Nada hatte keine Chance, sie starb noch am Tatort. Wie sagt man so etwas einem Fünfjährigen? Cizmar lacht tonlos auf. „Ja. Das war das größte Problem.“ Er sagte es einfach direkt. Das Kind antwortete: „Mama kann nicht tot sein, weil ich noch mit ihr sprechen will.“
Menschenmengen erträgt er kaum
Andreas Schwartz hat seine Wohnung früher jedes Jahr zu Weihnachten geschmückt. „Das war immer schön“, sagt er. Jetzt kann er den Anblick von Adventsdekoration fast nicht mehr ertragen. Er überwindet sich, das Fest vorzubereiten, wegen seiner Tochter. Er denkt oft nach, es kann so viel passieren. Menschenmengen hält er kaum aus. Jetzt, auf dem Breitscheidplatz, geht es, es ist später Nachmittag, nicht viele Leute sind unterwegs. Trotzdem ist er nervös. „Ich gucke rechts, ich gucke links, hinter mich, ich muss sehen, wie ich es verarbeite.“
Schwartz sagt, er habe gern Ausflüge mit dem Auto gemacht. Jetzt meidet er längere Strecken, er kann ja schlecht sitzen, und auch im Verkehr kommt die Angst hoch, richtig schlimm ist es, wenn er ihm Lkws entgegen kommen. „Da sagt mein Töchterchen: Reiß dich am Schlüpfer, wir wollen heile ankommen.“ Überhaupt seine Tochter. Die fordert ihn, treibt ihn an, wenn er sich gerne verkriechen würde. 14 ist sie, sie leidet mit ihm, hat ja nur ihn, sagt er. „Mein Sonnenschein.“
Ein Durcheinander der Zuständigkeiten
In einer Seitenstraße in Berlin-Mitte hastet ein Mann mit eckiger Brille durch eine Anwaltskanzlei; Roland Weber, Jurist und Opferbeauftragter der Landes Berlin, hat viel zu tun dieser Tage, seit dem Anschlag lässt ihm das Ehrenamt wenig Zeit für seine eigentliche Arbeit.
Weber hat schon vor Jahren gesagt, dass der Staat in gravierenden Fällen von selbst auf die Opfer zugehen müsse. „Im Gesetz steht überall auf Antrag, auf Antrag, auf Antrag. Und das ist in Ausnahmesituationen eine ganz schöne Zumutung.“
Gerade am Anfang sei viel durcheinandergelaufen, der Ton der Behörden oft brüsk und kalt gewesen. „Das Problem ist: Was in der ersten Zeit falsch gelaufen ist, das können sie nachher nicht mehr kitten.“
Es gibt mehrere Töpfe, aus denen den Opfern Leistungen zustehen, aber wer wo Hilfe kriegen kann, war kaum zu überblicken. Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) griff zunächst nicht, weil Amri einen Lkw als Waffe benutzt hatte. Darum wurde das Attentat eingestuft wie ein Unfall mit Fahrerflucht. Die Opfer erhielten Geld aus der Verkehrsopferhilfe, später aber doch auch nach nach OEG; hinzu kommen die Härtefallleistungen für Terroropfer.
Weber hat zugehört, vermittelt, geholfen, erklärt. Aber es gibt eine Diskrepanz, die er nicht beseitigen kann: Behörden brauchen ihre Zeit, um Anträge zu bearbeiten. Die Opfer erwarten sofort Hilfe. Die kam nicht. Also wurde der Frust immer größer. Weber sagt: „Dem Amri war es ja wurscht, wen er tötet, der wollte den Staat treffen. Deshalb sagen die Hinterbliebenen: Ihre Angehörigen sind stellvertretend für den Staat gestorben.“
Petr Cizmars Kind ist wie alle Kinder: Es freut sich auf Weihnachten. Der Vater wird versuchen, mit ihm wie früher zu feiern, soweit das geht. „Wir werden an Mama denken am 19., und damit endet das Jahr für uns. Danach fahren zur Oma.“ Letztes Jahr wollten sie alle gemeinsam feiern, Nada sollte nach Braunschweig kommen, dann wollten sie nach Tschechien fahren. Dazu kam es nicht. Stattdessen mussten sie eine Beerdigung organisieren. „Die tschechischen Behörden haben uns in den ersten Wochen viel geholfen. Die deutschen nicht. Hier hat sich niemand für uns interessiert.“
Aber Cizmar regt sich nicht auf; er sagt, es hilft ja nicht. Er hat jetzt viel zu tun, Essen kochen klappt ganz gut, Kleidung kaufen fällt ihm noch schwer, und vermutlich ist es das, wonach er sich jetzt am meisten sehnt: Normalität. Probleme löst er gern praktisch. Wenn er Hilfe braucht, fragt er bei Kurt Beck, dem Opferbeauftragten der Bundesregierung, an. Nach dem Umzug brauchte er einen Schulplatz für David. Ein Anruf von Beck beim Dresdner Oberbürgermeister, dann hatte er einen. So leicht kann es gehen. Vorausgesetzt, man hat die Kraft, um Hilfe zu bitten.
David ist noch in seinem Zimmer, stumm gebeugt über das Handy. Der Junge, sagt Cizmar, kommt meist gut klar. Er hat die feinen Züge seiner Mutter, ist wissbegierig und munter. Aber manchmal kreisen dunkle Ideen in seinem Kopf; dann fragt er seinen Vater: Was, wenn uns Kriminelle angreifen? Heute Morgen ist Cizmar in der Wanne ausgerutscht und holte sich einen Schnitt am Hals, es blutete leicht, nichts Ernstes. Als er aus dem Bad kam, rief das Kind: Und wenn du stirbst, wer kümmert sich dann um mich? „Die Frage stellt er ständig.“
Wird die Aufmerksamkeit zuviel?
Im obersten Stock der Friedrich-von-Bodelschwingh-Klinik in Wilmersdorf sitzt Olaf Schulte-Herbrüggen an seinem Schreibtisch, Chefarzt und der Leiter der Berliner Trauma-Ambulanz. Rund 60 Breitscheidplatz-Opfer hätten sich dort behandeln lassen, sagt er, zuerst kamen die Leichtverletzten, dann die, die es schwerer traf. Später Ersthelfer, Polizisten, Feuerwehrleute und zuletzt Zeugen, denen irgendwann klar wurde, dass sie das Gefühl ständiger Unsicherheit nicht mehr loswerden. „Wir haben alles an Reaktionen, die man haben kann“, sagt er. „Einige reagieren mit depressiven, andere mit panikartigen Symptomen, andere erleben Wut.“
Er ist oft von Politikern gefragt worden: Wie sollen wir das Thema darstellen, um nicht die Opfer noch stärker zu belasten? Der Psychiater ist skeptisch, wenn er Forderungen nach mehr Aufmerksamkeit für die Opfer hört: „Die einen sagen: Es ist nicht genug gesagt worden. Das Gros sagt, dass sie die Öffentlichkeit und die Gedenkveranstaltungen als störend empfinden.“ Ihr größter Wunsch sei, zum Alltag zurückzukehren – dies sei aber nicht möglich, wenn sie ständig daran erinnert werden, wie schrecklich der Anschlag gewesen sei.
Der Kampf mit den Behörden
An einem Tag Mitte Dezember hockt Andreas Schwartz in seiner Wohnung im achten Stock eines Mietshauses. Neben ihm auf einer Konsole steht ein Weihnachtsbaum mit Nadeln aus weißem Plastik. „Meine Tochter sagt: Papa, der gefällt mir. Ich finde den na ja“, sagt er. Dann greift er einen Leitz-Ordner, der auf dem Stuhl liegt, auf dem Etikett ist „Gaza Strom“ durchgestrichen, darunter steht: Anschlag 19.12.16.
Schwartz hat alles abgeheftet, die Schreiben vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (zages), vom Bundesjustizministerium, Zeitungsberichte, Diagnosen, Briefe. Sein Kampf mit den Behörden ist noch nicht zu Ende; die Unfallkasse übernimmt nur die Kosten für die psychischen Folgen des Anschlags, nicht für die körperlichen. Das zages hat eine „psychoreaktive Störung“ mit Schädigungsgrad von 30 Prozent anerkannt; als berufsunfähig eingestuft ist er nicht. Der Bescheid ist vorläufig. Am 14. Februar muss er sich erneut begutachten lassen.
„Das ist traurig alles“, sagt Schwartz, „ich bin tierisch sauer.“ Er hat eine Einmalzahlung erhalten, das Geld war schnell alle, weil er in Vorleistungen gehen und Schulden zurückzahlen musste. Nun bekommt er eine Erwerbsminderungsrente von 141 Euro – wovon er aber nichts hat, weil sie auf sein Hartz IV angerechnet wird; alles in allem hat er jetzt 600 Euro im Monat weniger als vor dem Anschlag, sagt er.
Dann klingelt es, sein Psychologe steht vor der Tür. Er setzt sich auf die Couch, seinem Patienten gegenüber. Er sagt, Schwartz leide an erhöhter Reizbarkeit, geringerer Belastbarkeit, depressiven Stimmungen. Wie sein Patient sich entwickle? Der Psychologe zuckt die Schultern. „Er ist jemand, der sich viel zumutet und wenig auf sich selber achtet.“ Er hat ihm schon oft gesagt, er solle aufhören, nach Antworten zu suchen und lieber in die Zukunft schauen. Nur wie soll das gehen, wenn ihn die Folgen des Anschlags nicht loslassen? Schwartz weiß es nicht, er schüttelt stumm den Kopf. Ringsum ihn brennen Kerzen, ein Teelicht glimmt in einem Keramikhaus. Bald ist wieder Weihnachten.