Bundestagswahl Wahlkreis 72 MZ-Wahlforum: Schlagabtausch in Merseburg zu Wirtschaft, Energie und Rente
Die Direktkandidaten des Wahlkreises 72 von AfD, Grünen, CDU, Die Linke, SPD und FDP diskutierten beim MZ-Wahlforum in Merseburg, wie sich die Chemieindustrie wieder in Schwung bringen ließe und ob Änderungen beim Bürgergeld nötig sind. Ein Kandidat will in Sachsen-Anhalt neue Kohlemeiler bauen.
Merseburg/MZ - Das Interesse an den vorgezogenen Bundestagswahlen am 23. Februar ist groß. Darauf deutet der Andrang hin, der am Montagabend beim rund eineinhalbstündigen Wahlforum im Merseburger Ständehaus herrschte, zu dem die Stadt gemeinsam mit der Mitteldeutschen Zeitung eingeladen hatte. Mit rund 130 Besuchern waren alle Sitzplätze im Saal besetzt. Einige Gäste mussten sogar stehen.
Mit Ausnahme des Bündnisses Sahra Wagenknecht, das keine Direktkandidaten stellt, waren alle Kandidaten der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien anwesend, die im Wahlkreis 72 antreten. Dieser umfasst neben dem gesamten Burgenlandkreis die Gemeinden Merseburg, Braunsbedra, Leuna, Bad Dürrenberg und Schkopau im Saalekreis. Bei den Kandidaten handelt es sich um Moritz Eichelmann (FDP), Enrico Gemsa (Bündnis 90/Die Grünen), Martin Reichardt (AfD), Michael Scholz (Die Linke), Norman Steigleder (SPD) und Dieter Stier (CDU).
Nachdem jeder von ihnen 90 Sekunden Zeit hatte, sich und seine Ziele für die Bundespolitik vorzustellen, stellte ihnen Robert Briest, Leiter der Merseburger MZ-Lokalredaktion, Fragen zu Themenkomplexen wie Energie, Wirtschaft, Bürgergeld und Rente. Die MZ fasst die Fragen und die Antworten der Direktkandidaten zusammen.
Wie können Unternehmen in der Region gehalten werden?
Die vergangenen Jahre waren nicht rosig für die deutsche Wirtschaft, die nur ein minimales Wachstum aufwies. Um dies zu ändern und die Unternehmen im Wahlkreis 72 zu halten, wolle die CDU die Firmen laut Dieter Stier „von Bürokratie befreien“, nämlich „Melde- und Aufzeichnungspflichten senken“. Zudem soll die Unternehmenssteuer gesenkt werden.
Auch die AfD wolle für steuerliche Entlastungen der Unternehmen sorgen, womit „die Schäden, die die Ampel angerichtet hat“, reduziert werden sollen, so Martin Reichardt.
Die SPD wolle mit einem Energiepreisdeckel energieintensive Branchen entlasten, sagte Norman Steigleder. Mit einem „Made in Germany-Fond“ sollen Unternehmen zudem animiert werden, „vorrangig hier zu investieren“.
Auch Michael Scholz von den Linken möchte die Energiepreise deckeln. Dies solle „aber nicht durch eine staatliche Stütze“ finanziert werden. Er sieht die Energieanbieter in der Pflicht, für bezahlbare Preise zu sorgen.
Die FDP will einen anderen Weg gehen. Moritz Eichelmann verwies darauf, dass für Energiepreisdeckel die Steuerzahler aufkommen. Stattdessen wolle er die Energiesteuern senken. „Der Staat verdient viel an Energie, Sprit, et cetera“, so der Liberale.
Enrico Gemsa vertritt die Ansicht, dass die Strompreise durch den Ausbau der erneuerbaren Energie wieder sinken und sich viele Unternehmen vorrangig dort ansiedeln, wo Wind- und Solarenergie produziert wird. Die Grünen wollen zudem eine Investitionsprämie als Anreiz schaffen, damit Unternehmen verstärkt auf erneuerbare Energien setzen. Das führte zum nächsten Punkt.
Welchen Energiemix braucht Deutschland?
Der Strompreis kennt in Deutschland im Prinzip nur eine Richtung: nach oben. Das macht nicht nur Privatverbrauchern, sondern auch energieintensiven Branchen und dabei insbesondere der Chemie zu schaffen, die im Wahlkreis allem im Zeitzer Industriepark sowie in Leuna und Schkopau angesiedelt ist und viele Arbeitsplätze in der Region stellt.
Für eine Verteuerung sorgt unter anderem die CO2-Bepreisung, die Emissionen reduzieren und somit einen Beitrag zum Klimaschutz leisten soll. In diesem Zusammenhang steht auch der Kohleausstieg Deutschlands, an dem alle vertretenen Parteien mit Ausnahme der AfD festhalten wollen. Der daraus folgende Strukturwandel sei „eine Strukturzerschlagung“, so Martin Reichardt. Die „Bekämpfung der fossilen Energieträger“ habe zur „maßlosen Verteuerung“ des Stroms geführt, sagte der Vertreter der einzigen an diesem Abend anwesenden Partei, die den menschengemachten Klimawandel leugnet. Die AfD wolle wieder vollumfänglich in die Kohleverstromung sowie die Atomenergie einsteigen und wieder „günstiges Gas aus Russland beziehen“. In diesem Zusammenhang kritisierte Martin Reichardt auch die „verfehlte Solidarität mit der Ukraine“. Er habe auch nichts gegen Solar- und Windenergie „als Ergänzung“, doch „da hier die Kohle liegt, kann man hier auch Kohlekraftwerke bauen“, sagte der Kandidat der AfD, auf die Frage, ob auch in Sachsen-Anhalt neue Kohlemeiler gebaut werden sollen. Sobald die vollständige Rückkehr zu Kohle, Gas und Atom erfolgt sei, wolle die AfD „die Verspargelung der Landschaft zurückdrehen“, sagte er mit Blick auf Windräder.
Das sorgte für reichlich Widerspruch der anderen Kandidaten. Moritz Eichelmann bezweifelte, dass es die Bewohner der Reviere gern sähen, wenn in ihrer Umgebung wieder Kohle gefördert wird, „während Sie in der Börde ein schönes Leben haben“, bezog er sich darauf, dass Martin Reichardt als einziger Direktkandidat nicht im Wahlkreis 72 wohnt. „Wir können Vorreiter mit einem mitteldeutschen Wasserstoffnetz werden“, brachte er einen Stoff ins Spiel, der von vielen als Energieträger der Zukunft gesehen wird.
„Wir sprechen nicht nur von Wind- und Solarenergie, sondern auch von Wasserstoff“, sagte auch Norman Steigleder. Der Sozialdemokrat verwies darauf, dass beispielsweise das Lausitzer Energieunternehmen Leag ein Kohlekraftwerk auf Wasserstoff umstellen wolle. „Wir können mit unserem Energie- und Innovationsstandort auftrumpfen und nicht, wie es die AfD will, Raubbau an unserer Region betreiben“, konterte auch er Martin Reichardts Aussagen.
„Ich bin glücklich, dass die AfD ihr grünes Herz entdeckt hat und Wälder retten will“, sagte Linken-Kandidat Michael Scholz ironisch zur Ankündigung der AfD auf ihrem Parteitag, Windräder in einem hessische Wald abbauen zu wollen. Er verwies darauf, dass es in der Region oft eine Überproduktion von Wind- und Solarenergie gebe und „die Energie mit Wasserstoff gespeichert“ werden könne.
„Da spielt auch Klimaschutzrolle eine Rolle, aber nicht mit der Brechstange“, sagte wiederum Dieter Stier. „Keiner hat was gegen Solar- und Windenergie“, so der Christdemokrat, der aber auf die sogenannten Dunkelflauten aufmerksam machte, wenn die Sonne nicht scheint und kein Wind weht, und darauf, dass es noch nicht genügend Speichermöglichkeiten für die erneuerbaren Energien gebe. Deshalb habe „Kohle noch ihre Daseinsberechtigung“.
„Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir die erneuerbaren Energien weiter so ausbauen“, ist Enrico Gemsa überzeugt. Er verwies darauf, dass erneuerbare Energien in der Herstellung viel günstiger als Kohle- und Atomenergie seien. Das Problem ist jedoch, dass sich der Strompreis heute nach der teuersten Energieform richten. Das müsse jedoch auf europäischer Ebene angegangen werden, waren sich alle einig.
Obwohl zwischen den Kandidaten von CDU und FDP ansonsten viel Einigkeit herrschte, beispielsweise was die „Technologieoffenheit“ beim Thema Energie anbelangt, widersprach Dieter Stier Moritz Eichelmann, als dieser sagte, der Kohleausstieg sei „über die Köpfe der Menschen hinweg“ entschieden worden. Das Ende der Kohleverstromung wurde neben Umwelt- auch von Wirtschaftsverbänden sowie von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen, so der Christdemokrat.
Weiter so mit dem Bürgergeld oder was stattdessen?
Dass Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht arbeiten können, finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten müssen, darüber waren sich alle einig.
Martin Reichardt kritisierte aber, dass mit dem Bürgergeld auch „ein Ukrainergeld geschaffen“ worden sei. „Wir müssen Anreize schaffen für Menschen, die hier jahrelang gearbeitet haben, aber nicht für Menschen, die ins Sozialsystem einwandern“, sagte der AfD-Kandidat.
Die CDU lehne die Bezeichnung „Bürgergeld“ ab, und wolle es in „soziale Grundsicherung“ umbenennen. Und „wer nicht arbeitet, aber arbeiten könnte, kann nicht alimentiert werden“, so Dieter Stier. Die CDU wollen deshalb „die Sanktionen, die die Ampel abgeschafft hat, wieder einführen“.
„Ich glaube nicht, dass wir uns über die Bezeichnung streiten müssen“, erwiderte Moritz Eichelmann. Das lenke vom eigentlichen Problem ab. Wichtiger sei es Maßnahmen zu schaffen, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Über die Abstände zwischen dem, was ein Bürgergeldempfänger bekommen und Arbeitnehmer verdienen, müsse aber noch einmal diskutiert werden.
Für Enrico Gemsa sei das „die falsche Perspektive“. Der Grüne verwies beispielsweise auf alleinerziehende Mütter, die trotz eines Jobs nicht über die Runden kämen und deshalb auf Bürgergeld angewiesen seien. Zudem seien im Hunderte Milliarden Euro schweren Bundeshaushalt die Ausgaben für das Bürgergeld „marginal“. Sie betrugen im Jahr 2023 rund 37,4 Milliarden Euro.
„Wir sehen keinen Reformbedarf“, sagte Sozialdemokrat Norman Steigleder. Auch er bezog sich auf „Aufstocker“ und insbesondere auf „Mütter und Behinderte, die nicht arbeiten können“.
„Der Regelsatz ist viel zu wenig“, meinte Linken-Kandidat Michael Scholz und brachte einen anderen Vorschlag: „Ich würde es zu einem bedingungslosen Grundeinkommen weiterentwickeln“. Das heißt also, dass jeder Bürger, ob berufstätig oder nicht, pro Monat einen festen Betrag vom Staat überwiesen bekommen soll. „Wer mehr verdient, hat was zusätzlich“, so Michael Scholz, der überzeugt ist, dass sich das aus dem Bundeshaushalt finanzieren lasse.
Was tun gegen Altersarmut? Braucht es Änderungen im Rentensystem?
Laut Bundesregierung waren im 2023 18 Prozent der Über-65-Jährigen armutsgefährdet. Tendenz steigend. Als Armutsgefährdet gilt in Deutschland, wem weniger als 60 Prozent des bundesweiten Durchschnittseinkommens zur Verfügung stehen. Das sind derzeit knapp 1.200 Euro im Monat. Als ein Mittel dagegen sieht Michael Scholz die Anhebung des Rentenniveaus von 48 Prozent des verfügbaren Durchschnittslohns auf 53 Prozent anheben. Zudem müsse die Rente jährlich angepasst werden, was er unter anderem mit der Inflation begründete. Damit auch Frauen die gleiche Rente wie Männer erhalten, müsse zudem „mehr für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ getan werden. Denn aufgrund von Elternzeit und Arbeit in Teilzeit starteten die Karrieren von Frauen in der Regel später als die der Männer, was auch eine niedrigere Rente zur Folge habe.
Die SPD wolle das Rentenniveau ebenfalls anheben. Das Geld dafür soll durch die Anhebung von Steuern in mehreren Bereichen kommen. Die Sozialdemokraten wollen laut Norman Steigleder „die Spitzenverdiener mehr belasten“, nämlich indem die Vermögens- und Erbschaftssteuer angehoben sowie eine Kapitalsteuer eingeführt wird. „Geringverdiener, Normalverdiener und Rentner“ sollen hingegen steuerlich entlastet werden. Zudem will sich Norman Steigleder für höhere Löhne einsetzen, denn dann „fließt auch mehr in die Rentenkasse“. Nicht zuletzt sei die betriebliche Altersvorsorge ein wichtiger Punkt, der mehr in den Blick genommen werden müsse.
Laut Martin Reichardt habe sich „die Altersarmut durch die schlimme Politik der letzten Jahre verschärft.“ Die AfD wolle, „alle in die Rentenkasse einzahlen lassen“. Eine Verbeamtung solle zudem nur für Menschen erfolgen, „die im Staatsdienst wichtig sind“. Woran deren Relevanz festgemacht werden soll, ließ er offen. Er sprach zudem die Diskrepanz wischen Einzahlern und Empfängern an. Aufgrund der sinkenden Geburtenrate sowie der immer älter werdenden Bevölkerung in Deutschland stehen immer mehr Rentnern immer weniger Menschen gegenüber, die das Geld erwirtschaften. Dafür machte Martin Reichardt die „kinderunfreundliche Politik der letzten Jahre“ verantwortlich. „Wenn wir Kinder wie in den 70er Jahren hätten, dann hätten wir genug Einzahler und brauchen keine Migranten dafür“, so der AfD-Kandidat.
„Ich rate dazu, den Begriff ,Armut’ spärlich zu verwenden“, mahnte Dieter Stier. Denn, „wenn man in der Welt rumkommt“, sehe man erst einmal wirklich, was Armut bedeute, von der kaum ein Deutscher tatsächlich betroffen sei, so der Christdemokrat. Auch er sprach die Diskrepanz zwischen Einzahlern und Empfängern an. Die Unterstützung aus der Staatskasse sei „legitim, aber nicht auf Dauer“. Es brauche stattdessen mehr Wirtschaftswachstum und bessere Löhne, die die Renten sichern. Mit der CDU soll es „keine Heraufsetzung“ des Renteneintrittsalters geben.
Für die Grünen sei klar, dass „das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent fallen“ darf. Auch Enrico Gemsa sei bewusst, dass es „zu wenige Kinder“ gebe, die später als Arbeitnehmer in die Rentenkasse einzahlen. „Selbst wenn wir Beamte einbeziehen“, ändere das nicht viel. Die Grünen wollen einen Bürgerfond einrichten. Durch staatliche Investitionen in „die Wirtschaft und Start-ups“ sollen Gewinne entstehen und darüber die Rente cofinanziert werden.
Das geht in Richtung der Aktienrente, die die FDP vorschlägt. Denn Moritz Eichelmann, mit seinen 20 Jahren der bei Weitem jüngste in der Runde, zweifelt, wie viele aus seiner Generation, daran, als Senior überhaupt eine staatliche Rente zu erhalten. „Wir brauchen eine völlige Umstellung“, forderte er deshalb und brachte daher die Aktienrente ins Spiel. Dabei wolle die Partei auch die Bürger einbeziehen, bei welchen Unternehmen das Geld angelegt werden soll.
Die Kandidaten von CDU, AfD und FDP sprachen sich zudem dafür aus, dass Menschen, die auch nach Erreichen des Rentenalters noch arbeiten können und wollen, dies steuervergünstigt oder sogar steuerfrei machen sollen.