1. MZ.de
  2. >
  3. Sport
  4. >
  5. Fußball
  6. >
  7. Rückblick: Rückblick: Die größten Momente der deutschen EM-Geschichte

EIL

Rückblick Rückblick: Die größten Momente der deutschen EM-Geschichte

Von Stephan Klemm 11.06.2016, 19:03
Der letzte Titelgewinn einer deutschen Nationalmannschaft bei einer Fußball-EM: 1996 reckt Jürgen Klinsmann den Pokal in den englischen Nachthimmel.
Der letzte Titelgewinn einer deutschen Nationalmannschaft bei einer Fußball-EM: 1996 reckt Jürgen Klinsmann den Pokal in den englischen Nachthimmel. Imago

1972: Sternstunde in Wembley

Viertelfinale der Europameisterschaft 1972, Hinspiel an einem Samstagabend im Wembley-Stadion. Rutschiger, nasser Boden. Günter Netzer verspringt der Ball nach 20 Sekunden. In der zweiten Minute eröffnet Kapitän Franz Beckenbauer mit einem Fehlpass 20 Chaos-Sekunden im deutschen Strafraum. So profan beginnt das Spiel, das später zu einer Sternstunde des deutschen Fußballs verklärt wird. Mythisch umrankt als grandioser Erfolg der Technik, des erhabenen, eleganten, ästhetischen Spiels der Deutschen über das zwar stürmische, aber letztlich erfolglose England. Deutschland gewinnt 3:1, siegt erstmals in England, eine Art Fußball-Festungssturm, der auch zur Verklärung dieser Partie beigetragen hat.

1972 wird zum vierten Mal ein Europameister gesucht. Nach der Qualifikation bleiben acht Nationen übrig, die sich im Viertelfinale in Hin- und Rückspielen duellieren. Danach folgt die  Endrunde mit vier Teams. Das grüne deutsche Trikot mit der weißen Nummer zehn trägt in Wembley Günter Netzer, Regisseur aus Mönchengladbach, damals 27 Jahre alt. Und er macht eines seiner besten Spiele. Holt sich den Ball am eigenen Strafraum, jagt damit durchs Mittelfeld, spielt kluge  Pässe, ist immer anspielbar und hat ganz oft eine kluge Idee.  

Vor dem Spiel überwiegt die Skepsis. Es gibt Ausfälle. Wolfgang Overath liegt nach einer Leisten-Operation in der Kölner Uni-Klinik. Berti Vogts aus Mönchengladbach ist am Meniskus verletzt. Overaths Kölner Kollegen Hennes Löhr und Wolfgang Weber können auch nicht mitspielen. Hinzu kommt noch eine Ergebnis-Krise der Bayern-Spieler, von denen sechs – Maier, Beckenbauer, Breitner, Schwarzenbeck, Hoeneß und Gerd Müller – in
der Startelf von Wembley stehen.

Und trotzdem findet die deutsche Mannschaft nach den Fehlpass-Turbulenzen zu Beginn bald schon hervorragend ins Spiel. Netzers Ballsprints sind das eine, schnelle und sichere Kombinationen das andere. Zu sehen ist in dieser Partie auch ein Positions-Wechselspiel von Netzer und Beckenbauer. Netzer erklärt: „Franz rückte nach vorne in die Offensive, ich ließ mich fallen.“ Und umgekehrt. Das sei einfach „eine kleine Variante“ gewesen, „worauf der Gegner sich nicht so gut eingestellt hat“.

Bei einem Konter – es steht 1:0 – grätscht Englands Kapitän Bobby Moore den deutschen Linksaußen Held im Strafraum ab. Klare Sache.  Netzer nimmt sich den Ball, geht am Elfmeterpunkt in die Hocke, legt sich den Ball zurecht, scheitelt seine Haare, nimmt Anlauf – und trifft in die von ihm aus gesehen linke Ecke. 2:1, 84. Minute. Ein Tor fällt noch, Müller trifft mit einem Schuss aus 15 Metern.

Die deutsche Elf schafft den Sprung ins Turnier nach Belgien – das Rückspiel gegen England in Berlin, 14 Tage nach Wembley, endet 0:0. In Belgien gewinnen die Deutschen das Finale mit 3:0 gegen die Sowjetunion und sind  zum ersten Mal Europameister.

1980: Hrubesch Nacht

Der Start ins Turnier gelingt gleich, in Rom gewinnt Deutschland in einer Neuauflage des EM-Finales von 1976 mit 1:0 gegen die Tschechoslowakei. Das Tor erzielt Karl-Heinz Rummenigge. Nach dem 3:2 gegen Holland – Klaus Allofs erzielt alle drei Treffer –  ist der Weg ins Finale vorgezeichnet. Denn bei dem Turnier in Italien wurden die Halbfinals ausgespart – die besten Teams der beiden Vierer-Gruppen sollten das Endspiel bestreiten.

In der anderen Gruppe setzt sich Belgien durch. Das Team ist seit zehn Spielen ungeschlagen, und verwirrt seine Gegner mit einer in Perfektion antrainierten Abseitsfalle. Die entscheidende Tat ist ein 0:0 im letzten Vorrundenspiel gegen Italien.  Belgiens Coach freut sich über seinen Coup: „Wir haben die Italiener mit italienischen Mitteln besiegt: Zeit schinden, Spielrhythmus zerstören, mit Händen und Füßen kloppen und auch das Spucken nicht vergessen.“

Deutschland geht als Favorit in das Finale im Olympiastadion von Rom. Das Finale ist erst das fünfte Länderspiel für Horst Hrubesch, noch ist sein Nationalmannschafts-Torkonto leer. Doch nach neun Minuten und 38 Sekunden trifft er aus 17 Metern nach feiner Vorarbeit von Bernd Schuster, der zuvor mit Allofs Doppelpass spielte. Derwall hat mit seiner Mannschaft vor dem Spiel Standardsituationen trainiert, aber vor allem Strategien gegen die Abseitsfalle: Fernschüsse, Dribblings, Doppelpässe mit Hrubesch als Anspielstation. Die Anspielstation hat sich vor dem 1:0 dann aber einfach mal selbstständig gemacht.

In der zweiten Hälfte kommt jedoch Unordnung ins deutsche Spiel. Uli Stielike foult vor dem Strafraum, doch es gibt trotzdem Elfmeter. Vandereycken verwandelt. Die Deutschen finden zurück ins Spiel. Es gibt Eckball für die DFB-Elf, und der Legende nach soll der ausführende Rummenigge einem nahe der Eckfahne sitzenden Fotografen gesagt haben: „Stell deine Linse auf den Hrubesch scharf, der macht jetzt das Kopfballtor.“ Und  er macht es, in der 89. Minute. Die Entscheidung ist gefallen. Für Hrubesch ist die Nacht von Rom der internationale Durchbruch.

Die erste Spontanparty auf dem Platz steigt im Fünfmeterraum bei Torwart Toni Schumacher. Er hat mit großem Einsatz, Risiko und Betäubungsspritze gespielt. Mittelhandbruch, passiert ist es im Abschlusstraining. Gesagt hat er nichts.

Horst Hrubesch bekommt dann bei  der Siegerehrung den Pokal als Dritter. „Ich war so kaputt, ich konnte das Ding kaum noch in die Luft stemmen“, erinnert der sich. Nach dem Spiel muss Hrubesch der internationalen Presse viel erzählen.  Zwei Stunden gibt er Interviews. Als er zurück in die Kabine gehen will, um sich umzuziehen, haben die Kollegen das Stadion schon verlassen. Im Hotel lief das Bankett schon, Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte seine Rede bereits gehalten. „Das Fest war fast schon vorbei.“

1984: Maceda trifft, und Derwall geht

Kein Tor ist bisher gefallen, die 90. Minute läuft schon. Das Halbfinale der Europameisterschaft 1984 ist nahe, und die deutsche Nationalmannschaft scheint ihren typischen Turnier-Weg zu gehen – bis zum Ende dabei. Doch diesmal, in einer schwül-warmen Juni-Nacht im Pariser Prinzenparkstadion, geht es dann doch nicht gut. 89 Minuten und 20 Sekunden sind gespielt, von rechts flankt der Spanier Juan Señor aus Saragossa.  Hinten jagt Antonio Maceda, Libero von Sporting Gijon, dem Ball am zweiten Pfosten entgegen. Alleine. Frei. Kopfball im Fallen. Volle Wucht. Perfekt getroffen. Tor. Es steht 0:1. Dabei bleibt es. Deutschland, der Titelverteidiger, ist ausgeschieden, ein Unentschieden hätte zum Weiterkommen gereicht. Es ist das erste Vorrunden-Aus bei einem großen Turnier. 

Die deutsche Elf ist in jenen Tagen in „desolatem Zustand“, schreiben Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp in ihrer „Geschichte der Fußball-Europameisterschaft“. Schon die Qualifikation für Frankreich wäre der Nationalelf fast misslungen. Zweimal verliert Derwalls Elf dabei gegen Nordirland. Am Ende setzt sich Deutschland nur wegen des besseren Torverhältnisses gegenüber den Nordiren durch.

Insgesamt wird ein spielerisches Defizit konstatiert, ein tauglicher Regisseur fehlt. Bernd Schuster (24), die Entdeckung des Turniers von 1980, ist verletzt.  Derwall stellt in Frankreich in seiner Not im Auftaktspiel gegen Portugal den Stürmer Karl-Heinz Rummenigge (FC Bayern, damals 28) ins Mittelfeld – es geht schief. Das Spiel endet 0:0, Schulze-Marmeling und Dahlkamp werfen der deutschen Auswahl „katastrophalen Fußball“ vor.   
Vor dem zweiten Spiel gegen Rumänien stellt Derwall seine Elf um. Rummenigge kehrt in den Sturm zurück – und es läuft besser. Zwei Tore von Rudi Völler bringen den Deutschen einen 2:1-Sieg und eine komfortable Ausgangssituation: Ein Remis würde im letzten Gruppen-Match gegen Spanien schon reichen, um ins Halbfinale einzuziehen. Es klappt nicht.

Frankreich, das in der anderen Vorrundengruppe spielte, hoffte auf ein Treffen mit den Deutschen im Halbfinale oder Endspiel, um Revanche nehmen zu können für Sevilla. Dort scheiterten die Franzosen 1982 im Elfmeterschießen an der DFB-Auswahl. Doch dazu sollte es nicht kommen. Frankreich holte auch ohne die Revanche den Titel. 

Eine deutsche Elf ist noch zwei weitere Male nach der Vorrunde eines EM-Turniers gescheitert: 2000 unter Erich Ribbeck und 2004 unter Rudi Völler. Beide Male musste sich der DFB anschließend – wie schon 1984 –  neue Trainer suchen.

1996: Oliver Bierhoffs Golden Goal

Im zweiten Obergeschoss des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund ist in einer Vitrine die Uniform ausgestellt, die Oliver Bierhoff getragen hat, als er die deutsche Nationalmannschaft zu ihrem bisher letzten Europameisterschafts-Titel geköpft und geschossen hat. Es passiert in Wembley, Englands wichtigstem Stadion. 2:1 gewinnt die deutsche Nationalelf damals im Finale gegen Tschechien, sie wird zum dritten Mal Europameister, und Bierhoff erzielt beide Tore. Als Einwechselspieler, der vor dem Endspiel innerlich schon abgeschlossen hat mit dem Turnier in England. Weil er lange ignoriert wird und  kaum spielen darf, dann aber doch gebracht wird und „das Spiel meines Lebens“ erlebt.

Für die deutsche Mannschaft fügen sich die Dinge von Beginn an in England. 2:0 gewinnt sie  ihr  Auftaktspiel – ebenfalls gegen Tschechien. Gegen Russland geht es  3:0 aus, Klinsmann trifft doppelt, das 1:0 erzielt Matthias Sammer, der bei diesem Turnier in großartiger Form ist.

Ein 0:0 im letzten Vorrunden-Match gegen Italien reicht zum Sieg in der Vorrunden-Gruppe C der erstmals mit 16 Teams ausgetragenen EM-Endrunde. Gegen Kroatien gewinnt Deutschland im Viertelfinale mit 2:1, Klinsmann und Sammer treffen. Im Halbfinale gewinnt Deutschland den Elfmeter-Krimi gegen England 6:5 und steht im Finale, zum fünften Mal bei einem EM-Turnier.

Oliver Bierhoff erlebt das Finale von Wembley – erneut geht es gegen den Auftaktgegner Tschechien – zunächst auf der Bank, auf der neben ihm nur noch zwei Feldspieler sitzen, der Rest ist verletzt.  Tschechien geht in Führung.  Jetzt  erst  erinnert sich Vogts an Bierhoff, den er schließlich in der 69. Minute einwechselt. Dritter Turniereinsatz, achtes Länderspiel. Vier Minuten später trifft der Eingewechselte schon per Kopfball.
Verlängerung, damals noch nach dem Modus des „Golden Goal“ ausgespielt: Wer zuerst in der vorgeschriebenen Zeit (zwei Mal 15 Minuten) trifft, egal, wann, hat gewonnen, weil das Spiel anschließend  sofort beendet ist. Fällt kein Tor, gibt es Elfmeterschießen.

Dazu kommt es nicht. Denn in der 95. Minute steht Bierhoff wieder richtig: „Langer Ball von Thomas Helmer. Ich verlängere ihn  erst auf Jürgen Klinsmann nach außen. Und der flankt von rechts nach innen, ich nehme den Ball mit dem Rücken zum Tor an und will ihn mir auf rechts legen. Doch dann ruft Marco Bode: ‚Andersrum.‘ Ich habe mich daraufhin tatsächlich andersherum gedreht – und einfach abgezogen, ohne zu überlegen.“ Der Ball wird leicht abgefälscht und rutscht   Torhüter Kouba über die Hände ins Tor. Aus und Sieg.