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Von STEFFEN REICHERT 06.09.2012, 10:58
Die damals elfjährige Jessica Kopsch verschwand 1998 in Berlin und wurde zwei Monate später tot in Halle (Saale) aufgefunden. (ARCHIVFOTO: MZ)
Die damals elfjährige Jessica Kopsch verschwand 1998 in Berlin und wurde zwei Monate später tot in Halle (Saale) aufgefunden. (ARCHIVFOTO: MZ) dpa

Berlin/MZ. - MZ-Beitrag vom 02.10.2001: Als das Telefon klingelte, zeigte der Wecker kurz nach sechs. Am Sonntagmorgen. Thomas Scherhant brauchte also einen Augenblick länger, um zu realisieren, woher der Dauerton kam. Dann überlegte er. Wenn er jetzt abnehmen würde, wäre das Wochenende vorbei. Denn es war ein Dienstgespräch, ganz sicher. Die Alternative hieß: umdrehen und weiterschlafen. Er hatte schließlich seinen freien Tag, den ersten seit Wochen.

Thomas Scherhant nahm ab. Knurrig begrüßte der heute 41-Jährige seinen Gesprächspartner. Danach war er endgültig wach: Der Kommissar vom Lagedienst des Landeskriminalamtes Berlin las ihm eine höchst interessante Information vor. Gerade hatten die Kollegen von der halleschen Kripo ein Fernschreiben geschickt. In einer Grube bei Halle war ein ermordetes Mädchen - scheinbares Alter zehn bis zwölf Jahre - entdeckt worden. Mit etwas Glück, wenn das Wort hier überhaupt passte, konnte das Kind jenes sein, das in der Hauptstadt seit mehr als zwei Monaten gesucht wurde.

Man kann nicht sagen, dass sich Scherhants Laune angesichts solcher Aussichten besserte. Aber der Leiter der 7. Mordkommission in Berlin machte sich auf den Weg an die Saale. Gut zwei Stunden später bestätigte der erste Blick auf die Leiche: Sie hatten Jessica Kopsch gefunden.

Stadtplan und H-Milch

Bald drei Jahre ist dieser Tag jetzt her, Scherhant hat ihn nicht vergessen. "Das Bild eines toten Kindes", sagt der Kriminalist, "wirst du nicht los." Wie so oft sitzt der Erste Kriminalhauptkommissar mit seinem Kollegen Jan Merkel im Beratungszimmer der Mordkommission und diskutiert den Fall. Hier - im letzten von mehreren Durchgangszimmern der "Struktureinheit LKA 4117" - sieht es nach Arbeit aus. Neben dem Tisch mit prallen Aktenordnern stehen Getränkekisten und palettenweise Tetrapacks mit H-Milch. An einer Metalltafel sind die wichtigsten Telefonnummern notiert, am aufgehängten Stadtplan weisen bunte Pinn-Nadeln auf Kriminalitätsschwerpunkte und Tatorte in der Hauptstadt. Der für den Fall zuständige Hauptsachbearbeiter Jan Merkel steckt noch einmal das Foto der elfjährigen Jessica Kopsch an den Plan, bevor er dem Chef alle bekannten Details berichtet.

Der 34-jährige Merkel erzählt von "Phase eins" der Ermittlungen. Davon, wie das Mädchen mit dem Spitznamen "Shorty" an jenem 28. Oktober 1998 kurz nach sieben Uhr morgens ohne Ranzen das Haus verlässt. Wie Jessica, die aus problematischen Familienverhältnissen stammt, den Weg in Richtung Eichborndamm nimmt. Wie sie dort - ihre Schule, die Mark-Twain-Grundschule, liegt in der genau entgegengesetzten Richtung - noch von zwei Klassenkameraden gesehen wird. Und wie sich dann, am helllichten Tag, die Spur des Mädchens aus Reinickendorf verliert. Polizist Merkel berichtet, wie die Eltern am Nachmittag in Panik die ersten Suchplakate kleben, wie die Mutter am Abend Anzeige erstattet. Und wie die "7. Moko", die Mordkommission also, die "Vermisstensache Kopsch" übernimmt.

"Nichts, absolut nichts", fasst Merkel, der seit vier Jahren in der Mordkommission arbeitet, das Ergebnis der wochenlangen Fahndung zusammen. Dabei haben sie alles Denkbare gemacht: befragt, geprüft, ausgeschlossen, wieder befragt. "Wir sind hier nie vor Mitternacht raus." Doch einen Ansatz finden die Polizisten nicht.

"Das Bild eines toten Kindes wirst du nicht los."

Thomas Scherhant

Leiter Mordkommission

Neun Mordkommissionen gibt es in Berlin, jede hat etwa acht Mitarbeiter. In den zwei Wochen "Mordbereitschaft", die im Rotationsverfahren abgesichert werden müssen, bekommen die Kripoleute alles auf den Tisch, was ungewöhnlich ist. Ärztliche Kunstfehler und Vermisstenanzeigen, Fälle von erpresserischem Menschenraub und Tötungsdelikte, Geiselnahmen, unklare Suizide und Tötungen auf Verlangen. "Vieles ist Routine", sagt Scherhant. 110 bis 120 Tötungsdelikte werden pro Jahr in der Hauptstadt gezählt. "Vieles davon lässt sich relativ schnell ermitteln." In anderen Fällen konnten die Polizisten trotz eines immensen Aufwandes auch Jahre später noch keinen Durchbruch erzielen.

Der Fall Jessica Kopsch ist so einer. Dass das Mädchen in der Kaolingrube bei Morl im Saalkreis gefunden wird, ist reiner Zufall. Ein Spaziergänger und sein Hund entdecken die Leiche in der stillgelegten Grube. Weitgehend unbekleidet steckt der Körper des Mädchens in einem Plastiksack. Das Motiv scheint klar. Von Anfang an konzentrieren sich die Fahnder auf einen männlichen Sexualverbrecher, einen Einzeltäter. Und darauf, dass der Fundort nicht der Tatort ist. Der Täter muss sich in der Gegend ausgekannt haben. "Schauen Sie." Scherhant holt den Straßenatlas aus dem Stahlschrank. "Er könnte über die A 9 gekommen und hier herunter, rüber nach Morl gefahren sein." Hypothetisch zumindest.

Immer wieder steht die zentrale Frage im Mittelpunkt. Warum hat Jessica Kopsch die Wohnung ohne Ranzen verlassen und ist weg von der Schule gelaufen? Bekam sie einen Anruf von einem Bekannten? Scherhant und Kollegen haben auch das geprüft. "Wir sind nicht weitergekommen." Auch der Schlüsselbund mit dem auffälligen Anhänger der "Berlin Capitals" und die schwarze Reißverschluss-Jacke wurden nicht gefunden. Später haben die Ermittler eine Rasterfahndung eingeleitet. Alle bekannten Sexualstraftäter aus Reinickendorf sind längst überprüft. "Fehlanzeige", sagt Scherhant. Nur einmal glauben sie, ganz dicht am Täter zu sein. Eine Festnahme, eine Hausdurchsuchung, dann die Entlastung. "Der Mann war definitiv unschuldig."

Fehlschläge wie dieser gehören dazu. Für Merkel sind sie normaler Bestandteil der Arbeit. Immerhin bedeutet jede Entlastung, dass man zugleich Personen aus der Reihe potenziell Verdächtiger ausschließen kann. "Aber natürlich ist es bitter, wenn man den Eltern auch nach drei Jahren sagen muss, dass der eigentliche Erfolg ausbleibt." Noch heute steht der Kriminalkommissar in losem Kontakt mit Jessicas Eltern. Manchmal schaut er vorbei, manchmal rufen sie an. Manchmal geht er wieder, weil zuviel Alkohol im Spiel ist. "Schlimm ist es für sie besonders am Geburtstag oder an anderen Feiertagen." Und natürlich dann, wenn ähnliche Verbrechen publik werden. Als die Festnahme des Mörders von Ulrike Brandt aus Eberswalde im Radio verkündet wird, ist Merkel zufällig gerade bei den Eltern Kopsch. "Da gab es unglaublich viele Fragen", erinnert er sich.

Fragen über Fragen werden den Kriminalisten auch gestellt, als das Ergebnis der ersten Obduktion bekannt wird. Die Gerichtsmediziner der halleschen Universität können nicht ausschließen, dass der Leiche innere Organe entnommen worden sind. Zu sauber sind die Trennlinien an den Organteilen, die noch vorhanden sind. Die Presse überschlägt sich. "Das war auch etwas, was wir lernen mussten", erzählt Scherhant: "Wir brauchten einen Mitarbeiter nur für die Medien."

Doch der Verdacht der Organentnahme ist lange aus der Welt. Ein zweites, in Berlin gefertigtes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die Organe "mit hoher Wahrscheinlichkeit" nicht entnommen wurden. "Wir halten Wildfraß für wahrscheinlich", sagt Scherhant und verweist darauf, dass die Leiche am Fundort mehrere Wochen frei gelegen hat und für Tiere zugänglich war.

Parallelen zu Peggy?

399 Hinweise sind bis heute eingegangen. Trotz einer Belohnung von 30 000 Mark ist keiner dabei, der den Durchbruch verspricht. Deshalb vergleichen die Kriminalisten ihre Ergebnisse akribisch mit anderen Fällen. Vor allem interessieren sie sich für die vermisste Peggy Knobloch aus Halle, die im fränkischen Lichtenberg verschwand. Und für den Fall Sandra Wissmann. Die Zwölfjährige wird seit November in Berlin vermisst.

Hoffnung? Die werden sie nicht aufgeben. "Sonst könnte ich die Arbeit nicht machen", sagt Jan Merkel. Vor wenigen Tagen war er wieder in Sachen Jessica unterwegs. Eine ältere Dame aus Reinickendorf hatte sich gemeldet und ihm viele Details genannt, die er derzeit prüft. "Ich lasse da nichts anbrennen." Aber sein Gefühl riet ihm, skeptisch zu bleiben. Irgendwie fand er die Frau merkwürdig.

Als er die Wohnung verließ, rief sie Kommissar Merkel plötzlich zurück. Sie könne auch noch etwas zum Fall Peggy Knobloch erzählen. Da wusste er, dass sein Gefühl ihn wieder mal nicht getäuscht hatte.