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Offenherzige Ausschnitte Offenherzige Ausschnitte: Jedes Dekolleté ist eine Mitteilung an die Außenwelt

Von Roland Mischke 16.05.2008, 19:29

Halle/MZ. - Doch kürzlich bei der Eröffnungsgala für die neue Nationaloper in Oslo hat Angela Merkel mit viel freigelegter Haut gezeigt, dass sie die ganze Nation an ihre Brust drücken will. Mit ihrem tief ausgeschnittenen Dekolleté - das Kleid entwarf ihre Hausschneiderin Anna von Griesheim - hat sich Deutschlands Frontfrau auf die Ebene von Filmstars begeben, die auf roten Teppichen und vor TV-Kameras tiefe Einblicke gewähren. Die Größe des Ausschnitts ist keine Modefrage, sondern eine des guten Geschmacks, und hier fand Merkel genau das richtige Maß. Sie gewährte tiefe Einblicke, zeigte aber keineswegs zu viel.

Jedes Dekolleté ist eine Mitteilung an die Außenwelt. Der soziologisch analysierende Schriftsteller Eduard Fuchs, der im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts seine "Illustrierte Sittengeschichte" in sechs Bänden veröffentlichte, wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis saß und in der NS-Zeit verfolgt wurde, weshalb er nach Paris floh und dort 1940 im Alter von 70 Jahren starb, erklärt im Band III seines Werks, wie es im Absolutismus zur "Eigenart der Präsentation des weiblichen Busens" kam. Bereits in der Renaissance wurde die Frauenbrust mitunter so unbedeckt gezeigt, "wie man Gesicht und Hände unbedeckt lässt". Das aber wurde kaum als sexuell aufreizend empfunden. Laut Fuchs muss man "zwischen nackten Brüsten und entblößten Brüsten" unterscheiden. Entscheidend sei "nicht der Grad der Preisgabe des Busens, sondern die Gesamttendenz der Kleidung und die besondere Form der Vorführung seiner Reize".

Nackte Brüste sind nicht inszeniert, aber dekolletierte in jedem Fall. Was früher nur gezeigt wurde, wird "jetzt förmlich dem Manne offeriert". Im "Leibdiener der Schönheit", einem Benimm-Buch des 18. und 19. Jahrhunderts, heißt es: "Wobei auch dieses noch in acht zunehmen, dass das Frauenzimmer im Sitzen oder Stehen die Brust fein herauswärts strecken muss, worinnen eine sonderliche Zierrat besteht." Das heißt: gerade sitzen und beim Stehen und Gehen auf hohen Absätzen den Körper strecken. So präsentierte sich Angela Merkel, das zeigen die Fotos. Nach Eduard Fuchs' Analyse wird in diesem Habitus die ganze Substanz des weiblichen Geschlechts zur Schau gestellt. "Der Busen der Frau bot sich dadurch den Blicken stets so dar, wie ihn die Natur eigentlich nur im Zustand der wollüstigen Erregung seiner Besitzerin zeigt. Denn nur in diesem Zustand richtet sich der Busen derart auf. Eine ständige Erektion des Busens vorzutäuschen, ist also die höchste Schönheitsforderung der Zeit."

Nun: Fuchs dachte sehr kühn. Und doch liegt er keineswegs falsch, wie ein Blick in die Geschichte des Dekolletés zeigt. Nackte Haut am Oberkörper der Frau ist keine Erfindung des Medienzeitalters. Sie stammt aus einer Zeit, als Frauen nach Jahrhunderten nicht mehr bis zum Hals zugeknöpft sein mussten. Etwa um 1400 war Kleidung nicht dazu da, den Frauenkörper zu verhüllen. Am Ende des Mittelalters setzte sich der Halsausschnitt durch. Noch 1411 geiferte der böhmische Reformator Jan Hus: "Die Weiber tragen ihre Kleider oben an der Halsöffnung so ausgeschnitten und weit, dass beinahe jeder bis an die Hälfte der entblößten Brüste ihre leuchtende Haut offen erblicken kann, in den Tempeln des Herrn ebenso wie auf dem Markte."

Alte Gemälde zeigen: In der Adels- und Hofgesellschaft wetteiferten Damen von Stand um das schönste Dekolleté. Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. erließ ein Dekret, das Hofdamen Kleider zu tragen erlaubte, deren Ausschnitte bis zum Warzenhof reichten. Bürgerliche Frauen dagegen hatten ihre Brüste mit einem Brusttuch zu bedecken. Sogar am Hof von Britanniens Queen Victoria war es üblich, die Brüste hochzuschnüren und aus dem Kleid quellen zu lassen. Nur im Biedermeier, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, war mehr bedeckender Stoff angesagt. In den 1920er Jahren und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg waren offenherzige Ausschnitte wieder Mode, man denke an Lana Turner, Jane Russel und später Marilyn Monroe. Der "Sweater-Girl-Look" setzte sich durch. Neben dem "kleinen Dekolleté", das oberhalb des Brustansatzes endet, gibt es seither das "große Dekolleté", das den Brustansatz betont. Heute werden außerdem die Schultern mittels schräger Ärmellöcher freigelegt, so dass noch mehr Nacktheit zu sehen ist.

So weit ging der Dresscode von Angela Merkel nicht: Züchtig bedeckte das blaue Kleid ihre Schultern, um den Nacken wand sich ein schmaler Kragen. Das Witzige: Die Kanzlerin trug vor zwei Jahren schon einmal dieses Kleid, damals bei einem Konzert in Bayreuth. Es fiel niemandem groß auf, die Medien nahmen keine Notiz davon.