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Marcel Witte seit zwölf Jahren im Gefängnis Marcel Witte seit zwölf Jahren im Gefängnis: Der Sohn des Ex-Spreepark-Betreibers und seine Geschichte

Von Georg Ismar 21.10.2015, 09:12
Marcel Witte sitzt am 25.09.2013 in Lima (Peru). Der 35-Jährige Berliner muss eine Haftstrafe von 20 Jahren für angeblich versuchten Kokainschmuggel absitzen.
Marcel Witte sitzt am 25.09.2013 in Lima (Peru). Der 35-Jährige Berliner muss eine Haftstrafe von 20 Jahren für angeblich versuchten Kokainschmuggel absitzen. dpa Lizenz

Berlin - Es ist zwölf Jahre her, dass Marcel Witte in einer Hähnchenbraterei in Lima saß - und plötzlich in viele Pistolen schaute. Am 5. November jährt sich der Tag, der das Leben des 35-Jährigen umstürzte. Zwölf Jahre Haft schon in Perus Hauptstadt.
Glaubt man Witte, ist er unschuldig. Das Urteil: 20 Jahre. Dabei ging die Sache mit den 167 Kilo Kokain im Fahrgeschäft Fliegender Teppich auf das Konto seines Vaters. Doch der hatte - wenn man so will - einen Herzinfarkt zur rechten Zeit, der eine Behandlung in Deutschland nötig machte.

In der Zwischenzeit erfolgte der Zugriff der Polizei. Der Schmuggel sollte 600.000 bis 700.000 Dollar bringen, Geld, dass die Wittes gebrauchen konnten. Die Idee eines Freizeitparks in Lima war gescheitert. Man wollte zurück nach Deutschland. Marcel bekam zwar Wind von den Koks-Plänen und wollte sie verhindern.

Ihm wurde aber vor allem zum Verhängnis, dass er Geschäftsführer des Freizeitparks in Lima war, also haftbar für einen Drogenschmuggel in einem seiner Fahrgeschäfte. Ja, die Geschichte der Wittes ist keine alltägliche. Es ist eine der schillerndsten Schaustellerdynastien, verfilmt im preisgekrönten Dokufilm „Achterbahn“. Marcels Schicksal verkommt dort fast zur Randnotiz, im Fokus steht sein charismatischer Vater Norbert, der in Berlin lebt und auf dem Bau arbeitet, während Marcel in Lima einsitzt. Es ist auch die Geschichte einer tragischen Vater-Sohn-Beziehung.

Vater Norbert Witte hatte nach der Wende einen Traum: Er wollte aus dem an der Spree gelegenen Park den attraktivsten Rummelplatz des wiedervereinigten Deutschlands machen. Unter dem Namen „Plänterwald“ war der Park schon zu DDR-Zeiten eine Institution. Doch es gibt viele Probleme, es kommt zur Insolvenz. Bis 2016 will das Land Berlin als Eigentümer aus dem geschichtsträchtigen Areal im Wald einen Natur- und Erlebnispark für die Bürger machen, aber keinen Vergnügungspark.

Nach der Spreepark-Pleite geht es 2002 für die Wittes mit einigen Karussells nach Lima. „Spreepark-Witte abgehauen. Uns lässt er nur das rostige Riesenrad“, titeln die Zeitungen. Die Karussells hängen monatelang im Zoll fest, Frau und Töchter gehen bald zurück.

Der 21 Jahre alte Sohn Marcel managt den Freizeitpark im Stadtteil Los Olivos. Und Vater Norbert ist mal weg, mal betrunken, mal gewalttätig. Und taucht oft mit zwielichtigen Zeitgenossen auf.

Wie geht es Marcel heute? Es dauert etwas, bis in Lima ein Taxifahrer gefunden ist, der zum Gefängnis Sarita Colonia im bitterarmen Vorort Callao fahren will. Einer, der abwinkt, deutet mit dem Finger eine durchgeschnittene Kehle an. Will heißen: zu gefährlich. Über lehmige Pisten geht es, die Straßen gesäumt von Müll, Hunde streunen umher.

Im Inneren des Gefängnisses ist keine Polizei mehr, nur ein paar verurteilte Mörder und Drogenhändler, die den Besucher mustern. „Marcelo! Marcelo! Visita.“ Hinten in einem kleinen Hof, sitzt er, er kommt entgegen, ganz nach dem Vater. Der gleiche melancholische Blick. Kräftige Statur, schwarze Slipper, dunkelgrüne Hose, grauer Schlabberpulli, die Haare kurz geschoren. Er holt zwei weiße Plastikstühle, nebendran stemmt ein Häftling auf einer Streckbank Gewichte. Die meterhohen Mauern sind gekrönt mit Nato-Stacheldraht.

Der Flughafen mit den Flugzeugen, die ihn zurück nach Berlin bringen könnten, ist nur fünf Kilometer entfernt. Man kann sie immer wieder hören. Alle sind sie in dieser Geschichte wie bei einer Achterbahn aus der Kurve geflogen, aber keiner so schlimm wie Marcel. „Der Junge hatte keine Ahnung, das ist allein meine Schuld“, sagte Norbert Witte bereits 2009 bei einem Treffen. Sie haben heute keinen Kontakt mehr.

„Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben“, sagt Marcel in Lima. Zwar bekam der Vater wegen des geplanten Drogenschmuggels auch noch ein paar Jahre Haft in Deutschland, aber 2008 war er wieder draußen. Klar und strukturiert berichtet Marcel Witte von der Zeit 2002/2003. Irgendwann hat er genug, packt seine Sachen. „Ich komm heim“, sagt er der Mutter. Der Vater bittet ihn zu bleiben. „Das war neu, statt Schlägen sagte er auf einmal, er braucht mich.“

Auf so ein Signal hat Marcel lange gewartet, er bleibt. Das Schicksal ist manchmal unberechenbar. Der Fliegende Teppich ist danach immer öfter kaputt, er wird ausrangiert. Es folgt der Herzinfarkt, der Vater habe ihm noch bei der Abreise gesagt: „Je weniger du weißt, desto besser“. Marcel bekommt mit, dass im ausrangierten Karussel Kokain eingeschweißt worden ist. Er will das Kokain rausholen. Kumpels des Vaters hätten ihn daran gehindert.

Ausgerechnet einer der Bekannten des Vaters habe ihn dann unter einem Vorwand in den Hähnchenladen gelockt. Er hat sehr intensiv die Akten studiert und denkt heute: Der angebliche Freund des Vaters lieferte ihn bewusst ans Messer, um mit der Polizei wegen einer anderen Strafsache einen Deal zu machen. Um seine eigene Haut zu retten.

Seine Mutter ist sehr stolz auf ihn

„Ich habe gelernt, mich hier wie ein Fisch im Wasser zu bewegen“, erzählt er über die Zeit im Gefängnis. Schlägereien aus dem Weg gehen. Er bekommt 120 Euro Sozialhilfe von der Botschaft, von Seife und Toilettenpapier angefangen, muss man hier alles selbst kaufen.

„Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn, dass er so stark ist“, sagt Pia Witte, die auch in Berlin lebende Mutter. Sie mit ihrem Mann gebrochen - und nur ein Ziel: dass der Sohn heimkommt. Sie bezog lange Hartz IV und leidet darunter, ihn nicht besuchen zu können.

Ein Problem war bisher, dass Deutschland eine Umsetzung des Urteils schon theoretisch nicht anbieten kann, da so ein Fall hier höchstens mit 15 Jahren bestraft werden dürfte. Grob gesagt, müsste mit Peru vereinbart werden, welche Strafe Marcel Witte in Deutschland noch zu verbüßen hätte. Wahrscheinlich nur ein paar symbolische Monate. „Die Peruaner würden der Überstellung nach Deutschland im Prinzip zustimmen, es hängt an der Bundesregierung“, appelliert Marcel Witte.

Kanzlerin Angela Merkel antwortet nicht mal

Selbst Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat seine Mutter um Hilfe gebeten. „Frau Merkel antwortet nicht mal“, kritisiert sie. Gauck habe geschrieben, dass er beim Peru-Besuch im März den Fall angesprochen habe. Witte ist zum Warten verdammt.

Er hat eine peruanische Freundin - sie war vorher mit einem anderen Häftling zusammen, er hat die 35-Jährige bei Besuchen kennengelernt. Sie hat in so jungem Alter bereits Brustkrebs. „Das kam auch noch dazu.“ Sie haben einen sechsjährigen Sohn. Witte wäre gern mehr für ihn da, als sein Vater es für ihn war, sagt er. „Aber jetzt habe ich einen Sohn, der auch keinen Vater hat.“ (dpa)

Norbert Witte, Vater von Marcel Witte, steht am 10.09.2015 vor der Baustelle eines Hauses am Alexanderplatz in Berlin.
Norbert Witte, Vater von Marcel Witte, steht am 10.09.2015 vor der Baustelle eines Hauses am Alexanderplatz in Berlin.
dpa Lizenz