Kriminalität Kriminalität: Eltern der verhungerten Jessica stehen ab Mittwoch vor Gericht

Hamburg/dpa. - Als Jessica starb, war sie sieben Jahre alt und wog 9,6 Kilogramm - so viel wie eine Zweijährige. Eingesperrt vonden Eltern in einem verdunkelten Zimmer, über Jahre hinweg gefangen gehalten wie ein Tier, verhungerte die Kleine elendig in einer Hochhauswohnung in Hamburg-Jenfeld. Knapp ein halbes Jahr nach dem qualvollen Tod des Mädchens müssen sich die 35-jährige Mutter und ihr 49 Jahre alter Ehemann von Mittwoch (24. August) an wegen Mordes vor dem Hamburger Landgericht verantworten.
«Mordmerkmal: grausam», schreibt die Staatsanwaltschaft in derAnklageschrift. Sie wirft den Eltern vor, Jessica «gröblichstvernachlässigt zu haben, so dass diese sich weder körperlich nochgeistig auch nur ansatzweise altersgerecht entwickeln konnte». Ingegenseitigem Einverständnis sollen Mutter und Vater «beschlossenhaben, ihre Tochter sterben zu lassen». Beiden droht eine Haftstrafebis zu 15 Jahren.
An zunächst zehn Verhandlungstagen will das Gericht mit Hilfe vonsechs Sachverständigen und neun Zeugen klären, warum diearbeitslosen Eltern ihr Kind so qualvoll sterben ließen. Dieemotionale Kälte und die mangelnde Einsicht der Angeklagten seienerschreckend, heißt es aus Kreisen der Ermittler. Wenige Tage vorBeginn des Prozesses tauchen neue grausige Details auf. So soll derVater dem Magazin «Spiegel» zufolge an einem Lichtschalter eineStromfalle für Jesica konstruiert haben, um vermutlich einenHaushaltsunfall des Mädchens vorzutäuschen.
Völlig isoliert von der Außenwelt ließen Mutter und Vater Jessicain der Hochhaussiedlung aufwachsen. Zwei Dutzend Mietparteien zähltdas Haus, in dem die Eltern mehrere Jahre mit ihrer Tochter in einerZwei-Zimmer-Wohnung im siebten Stockwerk gelebt haben. Doch keinerder Nachbarn will das Kind je gesehen haben. Wohl aber die Eltern,denn die waren Stammgäste in einer Gaststätte in der Siedlung.
Jessica wurde erst wahrgenommen, als sie starb, als dieSiebenjährige laut rechtsmedizinischer Untersuchung «an derEinatmung von erbrochenem Speisebrei erstickte». Sie war schon insKoma gefallen, als die Mutter am 1. März den Notarzt alarmierte.Zuvor hatte das Mädchen seit längerer Zeit so wenig zu trinken undzu essen bekommen, dass es aus Verzweiflung die eigenen Haareschluckte.
Zu Jessicas Beerdigung kamen Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust(CDU) und andere hochrangige Vertreter der Politik. Da hatten dieDiskussion und der Streit um eine mögliche Mitschuld der Behörden amqualvollen Tod der Kleinen schon begonnen. Eine Aufforderung,Jessica einzuschulen, ignorierte die Mutter. Vergeblich versuchtedie Schulbehörde, Kontakt zu der Familie aufzunehmen.
«Es gab keinen Hinweis darauf, dass etwas nicht in Ordnung war»,wies ein Sprecher der Sozialbehörde eine Verantwortung staatlicherStellen für Jessicas Tod zurück. Wenige Wochen nach der Beisetzungder Kleinen schändeten Unbekannte das Grab von Jessica. Sie zündetendrei Kränze an - den des Senats, den der Bürgerschaft und den desBezirksamtes.
Mit einem Sonderausschuss «Vernachlässigte Kinder» bemüht sichsich die Hamburger Bürgerschaft um die Aufarbeitung von Jessicastragischem Schicksal und die Vermeidung weiterer solcher Fälle. Dasist dringend geboten, denn seit März sind etwa auch die Eltern derzweijährigen Michelle wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. DieKleine starb im August 2004 an einem Hirnödem - daheim, weil Mutterund Vater das Kind nicht zum Arzt gebracht haben, in einer völligverdreckten Wohnung, wo noch fünf weitere Geschwister leben mussten.