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Silvesternacht 2015 Kölner Silvesternacht 2015: So erlebte eine Frau die Übergriffe

Von Sarah Brasack 31.12.2016, 06:15
Lisa liebt Köln und möchte nach ihrer Ausbildung herziehen.
Lisa liebt Köln und möchte nach ihrer Ausbildung herziehen. Grönert

Köln - Wenn Lisa Henske eines kann, dann das: vertrauen. Ein Geschenk, eine Fähigkeit, so groß, wie die Liste ihrer Notaufnahme-Besuche lang ist. Eine böse Nasenprellung, eine Gehirnerschütterung, ein Verdacht auf Querschnittslähmung: All das hat Lisa, die eigentlich anders heißt, nicht davon abgehalten, sich nach ihren Verletzungspausen immer und immer wieder in die Luft werfen zu lassen.

Nicht davon abgehalten, dem langjährigen Partner in ihrer Showtanzgruppe weiter zu vertrauen. Jedes Mal aufs Neue durfte Lars die Hände fest um ihre Hüften legen, um mit ihr Hebefiguren zu trainieren, die andere Menschen schon bei der Vorstellung schwindelig werden lassen.

Was Lisa vor fast genau einem Jahr vor dem Haupteingang des Kölner Doms passiert ist, hat ihr Vertrauen so erschüttert wie noch nichts in ihrem damals erst 19-jährigen Leben.

Das Vertrauen in ihre eigene Stärke. In die Polizei. In den Staat. Eine Erfahrung, vor der sie nicht einmal Lars, ihr Tanzpartner, „mein bester Freund“, schützen konnte, obwohl er in jenen verhängnisvollen Minuten dicht bei ihr war.

Beschützer-Instinkte weckt die 1,63 Meter kleine und höchstens 50 Kilogramm wiegende zierliche Frau mühelos. Ihre auffallend langen, hellblonden Haare trägt sie beim Gespräch offen. So wie fast immer. Auf das spontane Kompliment reagiert sie verlegen. „Blonde Haare, das kann auch ein Nachteil sein“, sagt sie. Zum Beispiel in der Silvesternacht.

Opfer nach der Kölner Silvesternacht hat  zumindest juristische Gerechtigkeit erlebt

Lisa ist eine von Hunderten Frauen, die in den Tagen nach der Kölner Silvesternacht bei der Polizei Anzeige wegen sexueller Belästigung erstattet haben. Was ihre Geschichte besonders macht: Der fremde Mann, der ihr gegen 0.30 Uhr am 1. Januar 2016 seinen Willen aufzwang, sie umklammerte, ihr mehrfach über die Wange leckte und sie küsste, ist für seine Tat verurteilt worden. Zu einem Jahr auf Bewährung.

Der 28-Jährige sitzt derzeit in Abschiebehaft, er kommt aus Marokko. Lisa ist Gerechtigkeit widerfahren – zumindest juristische. Fast alle anderen betroffenen Frauen in dieser Kölner Nacht werden für immer damit leben müssen, dass ihre Belästiger ungestraft davon gekommen sind.

Nicht weniger als die Nacht des Jahres sollte es werden. In der Lieblingsstadt. Lisa, die in einem Dorf in der Nähe von Siegen lebt, ist so vernarrt in Köln, dass sie nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement unbedingt herziehen will.

Sie zückt das Smartphone, sucht ein älteres Foto raus: Es zeigt eine strahlende Frau im Harlekin-Kostüm, die auf den Schultern von Lars steht. Sie. Im Hintergrund der beleuchtete Dom bei Nacht. Der Dom: die Kulisse ihres schönsten Übermuts. Und ihrer schlimmsten Demütigung.

Silverstnacht 2015 vor dem Kölner Dom: Eingesogen in die aufgebrachte Menschenmenge

Mit Lars und dessen damaliger Verlobter Kerstin mietet Lisa für die Silvesternacht ein Hostel-Zimmer in der Nähe vom Neumarkt. Gegen 20 Uhr schlendern sie über die Domplatte in die Kunstbar neben dem Alten Wartesaal, trinken Kölsch, tanzen.

Gegen 23.30 Uhr geht es in den Hauptbahnhof zum Supermarkt. Sie kaufen Sekt, mit dem sie am Rheinufer um Mitternacht anstoßen wollen. Als sie in die Bahnhofsvorhalle zurückkehren, hat sich die Stimmung verändert. „Polizisten haben die Türen der Haupteingänge von außen zugehalten“, erinnert sich Lisa.

Das Trio wird eingesogen in die aufgebrachte Menschenmenge, die drängelt und schiebt. Kerstin bekommt Platzangst. Ihre Freunde ziehen sie raus, laufen zum Nebenausgang, gelangen über Umwege – die Domtreppe wird von Polizisten abgeriegelt – auf die Domplatte.

Für den sehr nah gerückten Jahreswechsel ist der Rhein zu weit, um Schlag zwölf stehen sie auf dem Roncalliplatz. Gefährlich dicht zischen die Raketen an ihnen vorbei. Das Trio will nach einer halben Stunde nur noch zurück.

Auf dem Weg dorthin, am Dom entlang, spürt Lisa M. immer mehr Hände an ihrem Po. Zufall, denkt sie erst angesichts des Gedränges. Kein Zufall, merkt sie dann zeitgleich mit ihrer Freundin. Trotzdem bleibt die Gruppe vor den Kirchentüren stehen.

„Ein Foto mit Dom, das musste doch sein.“ Ein junger Mann fragt in gebrochenem Deutsch, ob er ebenfalls ein Foto mit den Frauen machen dürfe. Sie willigen ein. Kurz darauf kommt ein zweiter Mann. Foto? Er legt seinen Arm um die Frauen, Lars fotografiert.

So erlebte die Frau den Kontrollverlust in der Silvesternacht 2015 in Köln

Dann: Kontrollverlust. Lisas Freundin wird abgedrängt, von Männern umringt, die ihr alle zwischen die Beine fassen. Lars wird ebenfalls umzingelt, unter anderem von dem Fremden, der als Erster nach einem Foto gefragt hatte.

Lars soll „seine“ beiden Frauen für drei Stunden Sex verkaufen. „Sonst sei er tot, haben sie ihn bedroht. Wir waren wie eine Ware für diese Typen“, sagt Lisa.

Sie steht auf einmal allein neben dem eben noch freundlichen zweiten Fremden, dessen Umarmung unversehens steinhart wird. Lisa wehrt sich. Vergeblich. „Ich hatte Angst und habe mich unendlich geekelt.“

Ihre Freundin kann sich losreißen, reißt Lisa mit, sie stürmen fort, laufen in die nahe Einkaufsstraße. Auch Lars kann sich befreien, das Trio flüchtet ins Hostel-Zimmer, stumm vor Entsetzen.

Die Freunde beschließen irgendwann, noch in eine Bar zu gehen. Der Versuch, Normalität herzustellen, schlägt fehl. In der Bar sind sie gereizt, giften sich an. Als Lisa am Morgen des 1. Januar übermüdet und verstört nach Hause kommt, erzählt sie ihrer Mutter nicht, was passiert ist. Warum? Zögern. „Ich habe mich geschämt. Es war so persönlich.“

An Anzeige nach den Erlebnissen vor dem Kölner Dom in der Silvesternacht 2015 zunächst nicht gedacht

Auf die Idee, bei der Polizei Anzeige zu erstatten, kommen die Freunde mehrere Tage nicht. „Wir wussten gar nicht, dass man so etwas überhaupt anzeigen kann. Uns war ja nichts passiert, niemand war verletzt“, sagt Lisa.

Heute weiß die in körperlichen Blessuren so erfahrene Tänzerin, dass sie in dieser Nacht erstmals die Bekanntschaft mit einer schweren unsichtbaren Verletzung gemacht hat. „Es hat abgefärbt“: Diese Worte wählt Lisa für ihr Trauma. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer.“

Erst als die Freunde lesen, dass viele andere Frauen Anzeige erstattet haben, fassen sie Mut. Eine Woche nach Silvester fahren sie wieder nach Köln, marschieren in eine Polizeiwache in der Innenstadt. Im nächsten halben Jahr wird Lisa häufiger zur Polizei fahren. Sie wird mehrfach zu den Vorgängen befragt, fühlt sich verhört, als müsste sie beweisen, dass sie sich die Geschichte nicht ausgedacht hat.

Ihre Handy-Fotos vor dem Dom mit den beiden Tätern werden veröffentlicht. Einer von ihnen stellt sich freiwillig, den zweiten findet die Polizei. Am Prozesstag, es ist mittlerweile Juli, weint Lisa viel. „Die Männer haben mich während meiner Aussage die ganze Zeit angestarrt. Ich hatte fast ein Blackout deswegen.“

Monatelang konnte Lisa nicht darüber reden, was ihr passiert ist. Nicht mit ihrer Mutter. Nicht mit Freunden. Im Gerichtssaal musste sie darüber reden. „Und mittlerweile kann ich auch darüber reden“, sagt sie.

Viele Opfer sind nach der Kölner Silvesternacht 2015 schwer traumatisiert

Bei anderen betroffenen Frauen ist es umgekehrt. Sie haben in den Wochen nach der Silvesternacht geredet, auch mit Reporter: über ihre Panik-Attacken, ihre Ohnmachts-Gefühle, ihren Zorn. Aber mittlerweile können und wollen sie nicht mehr reden. Weil die inneren Bilder so kurz vor Silvester mit aller Macht zurückkehren und überwältigen.

Was alle befragten betroffenen Frauen gemeinsam haben: die Angst vor Menschenmengen, die Abneigung gegen Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, die Wut über eine zu empathische Aufnahme zu vieler Flüchtlinge. Bei mehreren: Ärger über Justiz und Polizei, die als ohnmächtig, untätig empfunden wird. Den Mangel an Vorfreude auf Silvester. Und den Vorsatz, an diesem Samstagabend lieber zu Hause zu bleiben.

Lisa wollte das erst nicht. Sie wollte die 110 Kilometer nach Köln fahren. Noch einmal richtig feiern, nah am Dom, ganz bewusst. Mit Lars. „Um zu zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern und uns nicht Silvester versauen lassen.“ Jetzt werden sie aber doch bei ihr Zuhause in der Wohnung feiern. Ein paar Freunde werden kommen. Nur Menschen, denen Lisa Henske vertraut.

Bilanz einer Nacht und Vorkehrungen für den Jahreswechsel: 1.222 Strafanzeigen sind die verheerende Bilanz der Kölner Silvesternacht 2015, 513 davon sind wegen Sexualdelikten gestellt worden. 20 Männer wurden vor Gericht schuldig gesprochen, darunter sind drei Verurteilungen wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Medien aus der ganzen Welt berichteten über die Ereignisse an Dom und Hauptbahnhof, ein Untersuchungsausschuss des Landtags versuchte sich an der Aufarbeitung. Polizeipräsident Wolfgang Albers wurde in den Ruhestand versetzt. Als Reaktion haben Polizei und Stadt das Sicherheitsaufgebot an Silvester massiv erhöht. Rund 1800 Beamte, darunter 300 Bundespolizisten werden in der Innenstadt im Einsatz sein, dazu 600 Mitarbeiter des Ordnungsamtes und privater Sicherheitsdienste. 25 Videokameras überwachen das Domumfeld, um die Kathedrale gilt eine Schutzzone, in der das Abbrennen von Feuerwerk nicht erlaubt ist. Auf dem Roncalliplatz ist eine Lichtinstallation zu sehen, auf der Domtreppe singen Chöre. (hge)