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Gespräch Gespräch: Berichte über Kannibalismus oft nur ausgedacht

13.12.2002, 14:18

Berlin/dpa. - In der Literatur zu findende Berichte über Kannibalismus beruhen nach Ansicht der Berliner Literaturwissenschaftlerin Michaela Holdenried in den seltensten Fällen auf Tatsachen. Es handele sich eher um Zuschreibungen des Autors an andere, die meist der eigenen Angstabwehr dienten, sagte die Wissenschaftlerin am Freitag in einem dpa-Gespräch. Dieser «Projektion» genannte psychische Vorgang finde sich schon bei Christoph Columbus. Er brachte den Stamm der «Canibe» mit dem lateinischen Wort für Hund (canis) in Verbindung und bezeichnete sie als Menschenfresser mit Hundeschnauzen.

«Auf frühen Landkarten wurden dann Menschenfresser dargestellt, die überm Feuer Gliedmaßen am Spieß drehten. Man hat das für bare Münze genommen», erläuterte die Expertin, die im Sommersemester 2000 in der Freien Universität einen Vortrag über Kannibalismus in der Literatur hielt. «Insbesondere in Kriegen wurde der Vorwurf der Menschenfresserei instrumentalisiert», sagte Holdenried. «Das diente der Legitimation für Verfolgung und Ausrottung.»

«Kannibalismus in der neueren Literatur sind meist fiktive Romane», sagte die Literaturexpertin. «Schon der Marquis de Sade berichtete über seine Fantasie des Verspeisens einer geliebten Person, weil die Geliebte es so will.» Menschenfresserei werde nur ganz selten detailliert beschrieben, so in «Hannibal» von Thomas Harris (2000) und in «Ich fraß die weiße Chinesin» (1994) von Duca DiCentigloria. «Der darin vorkommende Sadismus ist schon eher eine psychiatrische Kategorie», meinte sie. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hatte die «orale Phase» des kleinkindlichen Saugens an der Mutterbrust auch als «kannibalistisch» bezeichnet.

Bereits 1979 hatte der New Yorker Afrikaexperte in dem Buch «The Man-eating Myth» die meisten historischen Berichte über Menschenfresser als Fabel entlarvt, so Holdenried. «Dieses Werk wurde angefeindet, weil viele den Mythos vom menschenfressenden Wilden lieb gewonnen haben.» In so genannten primitiven Gesellschaften wurde teilweise das Herz oder Gehirn des Feindes rituell gegessen, doch offenbar seltener als angenommen. 1993 untersuchte die Berliner Archäologin Heidi Peter-Röcher das Leben von Frühmenschen und kam zu dem Schluss, dass Zeichen vermeintlicher Menschenfresserei eher auf Begräbnisrituale hindeuten.