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Großer Erzähler Frühwerke aus dem Nachlass: Siegfried Lenz als Radioautor

Seinen Roman „Deutschstunde“ oder die Kurzgeschichtensammlung „So zärtlich war Suleyken“ kennen viele. Dabei war Siegfried Lenz, der vor zehn Jahren starb, zunächst ein erfolgreicher Rundfunkautor.

Von Ulrike Cordes, dpa 02.12.2024, 09:00
Lenz war auch ein erfolgreicher Rundfunkautor. (Archivfoto)
Lenz war auch ein erfolgreicher Rundfunkautor. (Archivfoto) Fabian Bimmer/dpa

Hamburg - Dank seiner zeitkritischen Romane wie „Es waren Habichte in der Luft“ (1951), „Deutschstunde“ (1968) und „Heimatmuseum“ (1978) wurde er berühmt. Doch auch die Erzählungen in „So zärtlich war Suleyken“ (1955), eine Liebeserklärung an seine Heimat Masuren in Ostpreußen, begeistern bis heute viele Leser. Siegfried Lenz, geboren 1926 in Lyck und gestorben 2014 in Hamburg, war einer der angesehensten, vielfach preisgekrönten Schriftsteller der Nachkriegszeit – neben Heinrich Böll („Ansichten eines Clowns“) und Günter Grass („Die Blechtrommel“) eine moralische Instanz. In der jungen Bundesrepublik thematisierte er Nazi-Vergangenheit und Wirtschaftswunder mit all ihren Folgen.

Funde im Literaturarchiv in Marbach

Lange geriet dabei in Vergessenheit, dass Lenz, der nach Einsatz bei der Kriegsmarine, Desertation, NSDAP-Mitgliedschaft und englischer Gefangenschaft seit 1945 in der Hansestadt lebte, sich sein Renommee zunächst als Radio- und Fernsehautor verdient hatte. Mehr als 30 Jahre war er meist freier Mitarbeiter mehrerer Sendeanstalten, vor allem des Norddeutschen Rundfunks (NDR) sowie dessen Vorgänger NWDR in der Hansestadt. So schrieb er ab 1948 zahllose Hörspiele, Features, Glossen und Essays, von denen nun 164 auf fast 3.000 Seiten erstmals in der dreibändigen kommentierten Ausgabe „Siegfried Lenz. Rundfunkstücke“ zu lesen sind. Die Ausgabe erscheint aus Anlass des zehnten Todestages am Freitag (6. Dezember) im Verlag Hoffmann & Campe (Hamburg). 

Das 180 Euro teure Werk ist Ergebnis fünfjähriger Recherchen des Herausgebers Hans-Ulrich Wagner vom Leibniz-Institut für Medienforschung - Hans Bredow Institut (Hamburg) im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie in verschiedenen Rundfunk-Archiven. Die Historische Kommission der ARD und des NDR haben das Projekt unterstützt. „Die Texte zeigen einen jungen Literaten auf der Suche nach medialen Ausdrucksformen und einen aufmerksamen Journalisten, der sich mit politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen auseinandersetzt“ beschreibt der Medienwissenschaftler Wagner im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur (dpa) das Ergebnis seiner Forschungen.

Undogmatisch, aber mit pädagogischen Absichten

„Viele der Motive im erzählerischen Werk sind in den Rundfunkarbeiten angelegt – etwa Schiffe, Tauchen, Angeln, Sport“, sagt Wagner. Und erklärt: „Seine Gesellschaftskritik führt Lenz bereits hier am persönlichen Beispiel aus, das bei ihm ja grundsätzlich die Entscheidungssituation eines einzelnen ist. Wie später in der "Deutschstunde".“ Auch der sachlich-lakonische Schreibstil und die subtile, letztlich immer menschenfreundliche Ironie des Autors lassen sich in den Texten bis in die 1970er Jahre ausmachen. Alltagsbeobachtungen verdichtete Lenz zu Zeitdiagnosen, mit denen er seinen Mitbürgern undogmatisch, aber durchaus mit pädagogischen Absichten den Spiegel vorhielt.

Zusehend wurde er dabei auch politischer. Später war der Intellektuelle ein Unterstützer der Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, der ihn 1970 zur Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrags mit nach Warschau nahm. „Was mich antreibt – die Neugierde. Darum schreibe ich. Ich lerne etwas beim Schreiben“, sagte er einmal in einem Interview.

Viele wollten die Vergangenheit vergessen

In „Die Nacht des Tauchers oder: Die Wracks von Hamburg“, einer literarischen Reportage von 1955, widmet sich Lenz den Haltungen seiner Mitbürger gegenüber dem erst vor wenigen Jahren vergangenen Krieg und seinen Opfern. Ein Taucher soll helfen, Schiffswracks zu heben. Von denen lagerten im Hafen damals tatsächlich 2.830 Stück – zum Teil von der Kriegsmarine selbst gesprengt. In einem U-Boot entdeckt der Taucher einen toten Matrosen - und fantasiert voller Trauer über dessen Lebensende. Dagegen beschwert sich eine bereits wieder wohlhabende Dame vom Elbufer bei ihrem Gatten, dass man angesichts der vielen kaputten Masten niemanden einladen könne. Und sie meint: „Die Regierung soll Taucher einsetzen und die werden uns von diesem Anblick erlösen.“

Im Hörspiel „Die neuen Stützen der Gesellschaft“ (1956) nimmt der Autor ebenfalls den Snobismus der Hanseaten aufs Korn – samt den kriegsbedingten sozialen Veränderungen. „Vor dem ersten Krieg waren wir nur unter uns“, jammert eine ebenfalls sehr feine Dame angesichts der Einladungsliste für eine gesellschaftlich-kommerzielle Veranstaltung. Allein alteingesessene Reeder, Kaufleute und Bankiers gehörten damals dazu, bestenfalls kam noch der Kaiser. Inzwischen seien leider etliche neureiche Handelsleute in die Society aufgestiegen.

Schriftsteller und Journalist zugleich

„Er war ein Medienarbeiter, schrieb punktgenau für Sendeformate und Zielgruppen“, sagt Wagner über den Schriftsteller, der ab 1945 in Hamburg Philosophie, Anglistik und Literaturwissenschaft studiert hatte, dann ein Volontariat bei der Tageszeitung „Die Welt“ absolviert hatte und Journalist geworden war. Beim Radio trat Lenz sogar einmal als DJ in Aktion und legte seine Lieblingsplatten auf. Auch die Reisefreudigkeit des Ehepaars – Frau Lilo, zuvor Sekretärin bei „Die Welt“, tippte und begutachtete seine Manuskripte – findet sich in einigen Beiträgen. Die Radiostücke-Bücher bilden Band 23 bis 25 der auf 27 Bände konzipierten Lenz-Werkausgabe, die 2026 vollständig bei Hoffmann & Campe vorliegen soll. 

Wagner weist darauf hin, dass Lenz in seinem Rundfunkschaffen keine Ausnahme war. „Nahezu alle aus der Gruppe 47 haben quasi vom Rundfunk gelebt – so Günter Eich, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Martin Walser und Alfred Andersch. Außerdem Wolfgang Köppen und Arno Schmidt. Doch Lenz war der produktivste.“ Radio war in den 1950er Jahren das Leitmedium, betont der Forscher. Erst nach und nach wurde es vom Fernsehen abgelöst. Und innerhalb des Kulturprogramms der einzelnen Rundfunkanstalten pflegte man besonders das Hörspiel - „es war das Aushängeschild.“