Familiendramen Familiendramen: Kränkung und Scham als mögliche Ursachen
Berlin/MZ. - Gerätselt wird jedes Mal über die Gründe für die Taten. Iris Brennberger sprach darüber mit Steffen Dauer, Gutachter vom Institut für Rechtspsychologie in Halle.
Was geht in einem Menschen vor, der seine Familie und sich tötet?
Dauer: Die Motive dafür können natürlich sehr verschieden sein. Man muss auch immer prüfen, ob eine psychische Erkrankung vorliegt. Wenn es sich aber tatsächlich um einen erweiterten Suizid handelt, lässt sich eine bestimmte Konstellation erkennen: Menschen nehmen sich vor, ihr Leben zu beenden, und sie nehmen noch ihre Angehörigen mit, weil sie glauben, sie müssten ihnen das weitere Leben ersparen.
Warum sollen der Partner und die Kinder nicht weiterleben?
Dauer: Der entscheidende Punkt bei erweiterten Suiziden ist das Selbstwertgefühl des Täters. Sie sind in einer Lebenssituation, die sie als Kränkung ihres bisherigen Selbstwertgefühls erleben, etwa weil sie beruflich gescheitert sind, und sie sehen keine Alternativen mehr. Sie wollen ihren Angehörigen die Scham über ihr Scheitern nicht zumuten, deshalb töten sie. Dabei projizieren sie ihre Gefühle in die anderen hinein.
Die Täter bestimmen über ihre Familien?
Dauer: Ja, sie sind völlig auf sich zentriert. Es spielt keine Rolle, ob die Angehörigen die Situation genauso empfinden - ob sie sich beispielsweise tatsächlich schämen würden, weil der Mann finanziell am Ende ist.
Sind die Täter eher Männer oder Frauen?
Dauer: Ich habe mehr erweiterte Suizide von Männern erlebt, die ihre Frau und Kinder getötet haben. Erweiterte Suizide bei Frauen beziehen sich dagegen häufiger auf die Kinder allein. Anders gesagt: Wenn Frauen ihre Partner töten, dann nicht als erweiterten Suizid, sondern um den Mann zu beseitigen, den sie als furchtbar erleben.
Kann nicht auch Rache ein Motiv sein?
Dauer: Das habe ich bei erweiterten Suiziden so noch nicht beobachtet. Es gibt möglicherweise Fälle, wo Rache eine Rolle spielt. Aber dann tötet man sich vermutlich nicht selbst, denn man will ja sehen, wie die Rache erlebt wird. Es gibt beispielsweise Fälle, dass Väter ihre Kinder töten, damit die Frau das erlebt. Doch meistens töten diese Väter sich dann nicht selbst. Ein anderes Motiv für den erweiterten Suizid könnte die Überlegung sein: "Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich keiner haben."
Spielt der soziale Status bei solchen Taten eine Rolle?
Dauer: Entscheidend ist die Bilanz des Mannes, in diesem Moment in seinem Leben. Also nicht die Frage, aus welcher Höhe er abstürzt, sondern wie er den Absturz und dessen Folgen bewertet. Diese Männer kommen mit ihrem bisherigen Rollenbild nicht mehr klar, etwa als Familienversorger. Sie sehen sich als Versager. Nehmen wir den Fall eines Dachdeckers aus Halle. Auch er hat seine Familie getötet. Er war arbeitslos und hat das seiner Familie verschwiegen. Natürlich hätte er sagen können: Ich bin pleite, aber dann lebe ich eben von der Grundsicherung. Doch das konnte er nicht mit seinem Selbstwertgefühl vereinbaren.
Sind das spontane Taten?
Dauer: Es gibt sicherlich Affekthandlungen. Aber das ist die Ausnahme. Generell sind Mitnahmesuizide geplante Handlungen. Wenn etwa ein Abschiedsbrief vorliegt, oder wie im aktuellen Fall noch ein Kind in der Babyklappe abgelegt wurde, spricht das gegen eine Affekthandlung.
Häufen sich die Mitnahmesuizide?
Dauer: Was im Moment zu beobachten ist, nennen wir eine überzufällige Häufung. Es kommt einem auch so vor, weil viel darüber berichtet wird. Wenn ich es aber über die Jahre vergleiche, hat die Zahl der Fälle nicht zugenommen.