Eisbär in Shopping Mall Eisbär in Shopping Mall: Lebendes Mahnmal im Discolicht

Köln - In einem kleinen, bläulich schimmernden Terrarium inmitten der Grandview Shopping Mall am Zhengjia-Platz der Zwölf-Millionen-Stadt Guangzhou im Südosten Chinas liegt der traurigste Eisbär der Welt. Seine Einkerkerer haben ihm den unerträglich lustigen Namen Pizza verpasst. Täglich ziehen die Massen der Einkaufenden an ihm vorbei, klopfen an seine Scheibe, posieren für Selfies mit dem lethargischen Zwangsmigranten. Der wirkt hier so deplatziert wie der Eisbär, der die geheimnisvolle Tropeninsel in der TV-Serie „Lost“ durchstreift.
Die Inuit verehren die Kraft, den Mut und die Ausdauer des größten an Land lebenden Raubtiers. Doch hier, im Ozeanpark der Grandview Mall, viele Tausende von Kilometern von seinen angestammten Jagdgründen entfernt, scheint davon nichts mehr übrig zu sein. Hans de Beer, der mit den Bilderbüchern vom einsam auf einer Eisscholle treibenden, heimwehgeplagten „Kleinen Eisbär“, hätte ihn nicht niedergedrückter zeichnen können.
Schon im März hat ein Besucher das Video aufgenommen, dem wir unser Bild entnommen haben. Darauf bewegt das auf dem Betonboden niedergestreckte Tier nur ein wenig hospitalisierend den Unterkiefer, wie ein Schlaganfallpatient, der nicht mehr sagen kann, was er sagen möchte.
Dann wieder presst es sich so weit wie möglich in eine Ecke seines Terrariums, mit dem Gesicht zur Wand, oder hält sich eine Tatze vor die Augen, während es fröhliche Mall-Besucher mit blitzenden Handy-Kameras bedrängen.
Auch Walrosskälber und Weißwale wurden verpflanzt
Bilder, die sogar bei seinem Hund Mitleid ausgelöst hätten, kommentierte ein Youtube-Nutzer. Ein anderer schrieb deprimiert darunter: „Ich hasse Leute.“ In der Einkaufswelt am Zhengjia-Platz finden sich auch noch Walrosskälber, Polarwölfe und sogar Weißwale weit abseits ihrer Habitate verpflanzt.
Bislang haben rund 300 000 Menschen eine Online-Petition unterschrieben, welche die Schließung des kleinen Ozeaneums fordert. Ein stellvertretender Geschäftsführer der Grandview Mall versuchte, sich der Macht des Bildes entgegenzustemmen: „Der Eisbär im Aquarium ist sehr glücklich.“ Was den Aufschrei der Empörten selbstredend noch um ein Vielfaches verstärkte.
Die verquere Logik der Globalisierung hat ihn in ein Einkaufszentrum zur Unterhaltung der aufstrebenden chinesischem Mittelklasse verfrachtet. Ozeanparks sind in China beliebt, 39 seien hier in den vergangenen Jahren eröffnet worden, berichtet der „Guardian“, dutzende weitere werden in den kommenden Jahren eröffnen.
Die globale Erwärmung könnte Pizzas Artgenossen solche Sub-Zoos als letzte Zuflucht erscheinen lassen. Eine ökologische Nische als Einkaufs-Maskottchen.
Nur eine genetische Spur könnte übrig bleiben
Das immer früher schmelzende Polareis treibt die Eisbären an die Küsten, bevor sie durch die Robbenjagd ausreichende Fettreserven angelegt haben. Geht das arktische Eis so weit zurück, wie Experten es vorausberechnet haben, wird Mitte des Jahrhunderts nur noch ein Drittel des heutigen Bestands an Eisbären vorhanden sein. Verschwindet das Meereis völlig, verschwindet auch der Eisbär.
In den vergangenen zehn Jahren haben Inuit-Jäger immer mal wieder seltsam braun gesprenkelte Eisbären erlegt, Hybride aus Eis- und Grizzlybären, wie DNA-Untersuchungen ergaben. Schmilzt das Eis verschmelzen auch die Lebensräume und Grizzlys dringen weiter in arktisches Gebiet vor. Von den Eisbären, schätzen Experten, könnte nur eine genetische Spur im braunen Bären überleben, ähnlich wie die der Neandertaler im modernen Menschen.
Im entfremdenden Disco-Neonlicht seiner Einkaufszentrums-Einpferchung wirkt der traurigste Eisbär der Welt wie ein Mahnmal für zukünftige Opfer des Klimawandels. Was das Leiden der Kreatur selbstverständlich nicht rechtfertigt.