Auf dem Weg zur Einheit Das Ende der DDR: Als der Osten der Nabel der Welt war
Mit dem Antritt der letzten DDR-Regierung im April vor 35 Jahren beginnen Monate hektischer Betriebsamkeit. Die gerade erst ernannten Ministerinnen und Minister in Berlin sind als Diplomaten, Krisenmanager und Strategen gefragt.

Halle/MZ. - Zwei Dutzend Frauen und Männer sind es, die der neue DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière Mitte April 1990 in sein Kabinett berufen hat. Sie stammen aus fünf Parteien, haben nahezu durchweg keinerlei Erfahrung im politischen Geschäft, mit der Führung eines Ministeriums oder mit den diplomatischen Gepflogenheiten auf der internationalen Bühne. Dennoch sollen sie es sein, die die DDR in möglichst kurzer Zeit so umgestalten, dass der kleine ostdeutsche Teil Deutschlands wieder Teil des größeren westdeutschen werden kann.
Der Chef selbst, mitten im Zweiten Weltkrieg im thüringischen Nordhausen geboren, hat bis zuletzt gezögert, sich die Aufgabe wirklich überhelfen zu lassen. „Ich habe meine Zweifel, ob ich es machen soll. Deutlicher denn je“, sagt der 50-jährige Lothar de Maizière, der nach einer aus gesundheitlichen Gründen früh beendeten Karriere als Orchestermusiker Jura studiert und in der DDR unter anderem Wehrdienstverweigerer vertreten hat.
Er tut es dann doch, aus Verantwortung, wie er sagt. Er wolle der Anwalt der 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR sein. „Ihre Probleme sind meine Probleme.“
DDR hat Probleme bis zum Dach

Und die türmen sich in diesem April vor 35 Jahren bis zur Spitze des Fernsehturms. Die Staatskassen sind leer. Doch die Bundesregierung in Bonn zeigt sich nicht bereit, den Brüdern und Schwestern im Osten finanziell aus der Bredouille zu helfen.
Bundeskanzler Helmut Kohl will zuerst Taten sehen. Der Mann aus Ludwigshafen hat sich im Dezember den „Mantel der Geschichte“ (Kohl) angezogen. Er ist fest entschlossen, Deutschland Ost und Deutschland West nach 40 Jahren wieder zu vereinigen.
Und er misstraut den Bemühungen der bis zum Frühjahr 1990 von SED-Politikern geführten DDR-Regierung um die Wiedervereinigung.
Sowohl beim kurzzeitigen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz als auch bei Hans Modrow, dem Ministerpräsidenten des Übergangs, vermutet Kohl Hinhaltetaktiken. Geld gibt Bonn deshalb nur sparsam. Der Handlungsdruck soll hoch bleiben, die Kompromissbereitschaft groß.
Anwälte, Ärzte, Mathematiker: Abwanderung aus DDR reißt nicht ab
Die Ex-Anwälte, Chemiker, Mathematiker und Mediziner, die Lothar de Maizière in sein Kabinett berufen hat, ahnen anfangs nicht einmal, wie verfahren die Lage ist. Die Wirtschaft der DDR liegt am Boden. Die Staatskassen gähnend leer.
Immer noch verlassen jede Woche Tausende das Land, um in der Bundesrepublik neu anzufangen. Der schnelle Weg zur Einheit aber scheint verstellt: Vier Tage nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten bekommt Lothar de Maizière Post aus Moskau.
Gorbatschow für Vereinigung Deutschlands, aber unter Bedingungen
Unmissverständlich teilt der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow den Schutzbefohlenen der Sowjetunion mit, dass der Kreml unter einer Vereinigung Deutschlands das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zu einem einheitlichen neuen Staat verstehe.
Aber „nicht die Einverleibung des kleineren Staates durch den größeren“. Einen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23, wie ihn Bonn und Ostberlin favorisieren, komme deshalb keinesfalls in Frage.
Gorbatschow, in der DDR als Reformer und Wegbereiter der friedlichen Revolution hoch verehrt, lässt keinen Zweifel, was er für seine Zustimmung zur Wiedervereinigung erwartet.
„Vom Standpunkt des Rechts gesehen“, argumentiert er, wäre ein Beitritt der DDR zur Bundesrepublik „ein Versuch eines Nato-Landes, die souveränen Rechte eines Landes des Warschauer Vertrages zu usurpieren“. Einen solchen „Anschlag des Nato-Blocks auf die ureigensten Rechte der UdSSR“ werde diese nie hinnehmen.
Am 19. April bekennt sich Lothar de Maizière in seiner ersten Regierungserklärung zu sicheren Grenzen für alle, aber trotzdem demonstrativ auch zur deutschen Einheit. Sie sei der „Wille der Bürger“, die hätten ihm und seiner Regierung den Auftrag gegeben, sie so schnell wie möglich herbeizuführen. Angesichts der Situation bleibt der Großen Koalition in Ostberlin auch keine andere Wahl.
„Katastrophal belastet“: Letzte DDR-Regierung übernimmt ein desaströses Erbe
Mit ihrem Amtsantritt haben die neuen Minister ein desaströses Erbe übernommen. Kaum ein volkseigener Betrieb ist wettbewerbsfähig. Die Infrastruktur ist marode. Die Umweltbelastung, die die auf heimischer Braunkohle basierende Chemieindustrie verursacht, beängstigend.
Eine Untersuchung der Bundesregierung spricht von einer „dramatischen Umweltsituation“. Luft, Gewässer und Boden seien „katastrophal belastet“, es gebe „großflächige Landschaftsschäden durch Braunkohle-, Kies- und Uranabbau, vergiftete Gewässer und belastete Küstengebiete“.
Es gibt nur einen Ausweg, das ist allen klar. Und der heißt deutsche Einheit. Bei einem Treffen in Dublin sprechen sich die Außenminister der zwölf Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft (EG) für eine rasche Integration der DDR aus.
Wenig später stattet Lothar de Maizière Bonn seinen Antrittsbesuch ab. Thema seiner Gespräche mit Helmut Kohl sind die Vorschläge der Bundesregierung für eine Währungsunion, die der Kanzler kurz zuvor vorgelegt hat.
Historische Enteignung
Mit der Einführung der D-Mark im Osten sollen Löhne und Gehälter danach zum Umrechnungskurs von 1:1 weitergezahlt werden. Auch Sparguthaben bis zu einer Höhe von 4.000 DDR-Mark würden nach den Vorstellungen der Bundesregierung zu diesem Kurs umgetauscht.
Bitter hingegen: Alle höheren Guthaben würden im Zuge der Umrechnung halbiert. Das bedeutet, dass von etwa 160 Milliarden DDR-Mark, die sich DDR-Bürger unter erschwerten Bedingungen von niedrigeren Löhnen und Gehältern erspart haben, nur etwa 110 Milliarden übrigbleiben.
Die gesamten Sparguthaben in der Bundesrepublik belaufen sich 1990 auf etwa 2,6 Billionen, die im Einheitsjahr am Ende etwa 150 Milliarden an Zinsertrag abgeworfen haben werden.
Den Ostdeutschen, die etwa ein Viertel der Einwohner des wiedervereinigten Deutschland ausmachen, gehören damit nicht einmal fünf Prozent des Gesamtvermögens. Und nicht einmal der Zinsertrag eines westdeutschen Sparjahres.
François Mitterand für deutsche Einheit mit europäischer Vision
Doch einer muss bezahlen. Die ganze Welt schaut nach Deutschland. Hier ist das Feld, auf dem der kalte Krieg beerdigt werden soll, der Nabel der neuen Weltordnung. Nach dem Treffen mit de Maizière fliegt Kohl nach Paris, um mit Frankreichs Präsidenten François Mitterrand über Deutschlands Nato-Mitgliedschaft zu sprechen.
Der Franzose gilt wie US-Präsident George Bush und im Gegensatz zur britischen Premierministerin Margret Thatcher als Fan der Einheit. Solange sie eingebettet ist in eine europäische Vision, betont er.
BRD macht DDR das Angebot zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
Im Bundestag gibt Kanzleramtsminister Rudolf Seiters derweil Einblick in die Gespräche mit der DDR-Regierung: Das Angebot zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nennt er „großzügig und fair“. Es könne zudem ohne Steuererhöhungen finanziert werden.
Schon am Tag darauf befürworten alle Regierungschefs der EG die deutsche Einheit. Am 29. April fliegt Lothar de Maizière nach Moskau. Eine Mission Impossible, die nur eine Einsicht bringt: Es wird nicht die DDR-Regierung sein, die die Konditionen aushandelt, unter denen der kleine deutsche Staat aus dem Haushalt des großen Bruders Sowjetunion ausziehen darf.