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Hier schreibt Marc Rath Die Einheit könnte manchmal viel einfacher sein

04.10.2024, 08:39
MZ-Chefredakteur Marc Rath
MZ-Chefredakteur Marc Rath (Gestaltung: Tobias Büttner)

ich habe Feiertagsdienst, während ich diesen Newsletter schreibe: Tag der Deutschen Einheit! Über die Nachrichtenagentur kommt gerade der Text über die zentrale Feier in Schwerin. Das Zusammenwachsen sei „weit vorangeschritten“, aber auch ein „unvollendeter Prozess“, wird der Kanzler zitiert. Die gastgebende Ministerpräsidentin fordert, „der Osten muss stärker wahrnehmbar sein“. An der Küste hatte man für das Fest ein maritimes Motto gewählt: „Gemeinsam Segel setzen“.

Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Schwerin
Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Schwerin
(Foto: Stefan Sauer/dpa)

Dem anderen zuhören, voneinander lernen

Neben dem Laptop auf meinem Schreibtisch liegt der Brief eines mehr als 80 Jahre alten Ehepaars. In klarer Handschrift lese ich: „In letzter Zeit, seit sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert hat, schreiben oft Bürger negative, private Meinungen über den „ehemaligen Osten“. (…) Unsere Familie möchte mal verdeutlichen, welchem Weg wir gegangen sind. Gegenseitiges Vertrauen, dem anderen zuhören und voneinander lernen, auch wenn es nicht immer einfach war.“ Ja, es könnte aber manches Mal einfacher sein, als wir es (uns) machen. Die Geschichte des Paares will ich Ihnen nicht vorenthalten, aber sie ist so einfach und einfach auch so schön, dass ich sie in unserem Wochenend-Magazin „Blick“ am 9. November zum 35. Jahrestag des Mauerfalls abdrucken möchte.Nicht ganz so einfach war und wird es bei unseren Nachbarn in Sachsen und Thüringen. Dort sind jetzt zum ersten Mal nach den Landtagswahlen am 1. September die neuen Landtage zusammengetreten. In Sachsen wurde in dieser Woche der mit 42 Jahre noch relativ junge CDU-Abgeordnete Alexander Dierks als Landtagspräsident gewählt – mit breiter Mehrheit übrigens, die aus allen Fraktionen des Landtags zusammenkam. „Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Demokratie Streit und Debatte braucht“, sagte der CDU-Politiker bei einem seiner ersten Auftritte. Aber ein demokratischer Rechtsstaat „sollte niemals in einen Modus kommen, in dem wir über die Demokratie als das Instrument, das Spielfeld und das Fundament der Auseinandersetzung“ streiten.

Vorgeschmack, wenn die AfD in die Nähe der Macht kommt

Landtagsdirektor Jörg Hopfe diskutiert mit Abgeordneten im Thüringer Landtag.
Landtagsdirektor Jörg Hopfe diskutiert mit Abgeordneten im Thüringer Landtag.
(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Das ist einige Tage vorher im Thüringer Landtag dagegen – salopp formuliert - gründlich daneben gegangen. Unser MZ-Reporter Alexander Schierholz war in Erfurt im Plenum gewesen. Er hat „einen Vorgeschmack auf das“ erlebt, „was passieren kann, wenn die AfD so stark wird, dass sie in die Nähe der Macht kommt“, kommentierte er das Erlebte.Ob es so klug war, über eine geänderte Geschäftsordnung als erstem Beschluss hier zu (re)agieren, halte ich zumindest nicht für den besten Weg. Es hätte weit vorher die Gelegenheit gegeben, klar die Segel zu setzen, die verhindern, dass die Verfassung und das Procedere einer Landtagskonstituierung eine undemokratische Schlagseite bekommen. In Sachsen-Anhalt gilt übrigens seit einigen Jahren die Regelung, dass das Mitglied des Landtags mit den meisten Jahren im Parlament die Sitzung eröffnet. Auf Erfahrung zu setzen, macht Sinn – erst recht in diesen Zeiten.

„Was kommt aus dem Osten auf uns zu?“

„Was kommt denn da aus dem Osten auf uns zu?“, fragte mich in den ersten Septembertagen ein ehemaliger Kollege aus dem Nordosten Niedersachsens. Dort ist „der Osten“ nur einen Steinwurf über die Elbe entfernt, aber doch ganz weit weg. In seinem Unruhestand betreibt der Kollege immer noch einen Blog und bat mich um einen Beitrag, der etwas Licht ins Dunkel über die eigentlich nicht mehr vorhandene Grenze bringen sollte. Für mich war das Ergebnis der Landtagswahlen im September eines mit Ansage, schrieb ich ihm. Und dies nicht nur durch die Europa- und Kommunalwahlen drei Monate zuvor. Bereits bei der EU-Wahl hatten AfD und BSW im Osten vielerorts zusammen die meisten Stimmen. Und bei den Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt lag am Ende die AfD vorne, fast zwei Prozentpunkte vor der CDU.Und wer genau aufs Land geschaut hat, war wenig verwundert. Wenn ich in diesem Frühsommer die 15 Kilometer von meinem Dorf in der Altmark ins malerische Tangermünde gefahren bin, kam ich in jedem kleinsten Flecken an AfD-Wahlplakaten vorbei - eines am Anfang und eines am Ende eines jeden Ortes. Mal noch welche von der CDU, ganz wenige von der SPD. Grüne, Linke, FDP - Fehlanzeige. Im Nachbarort gab es ein Grillfest. Es war die einzige politische Wahlkampfveranstaltung. Und Sie ahnen sicher von wem. 14 Interessenbekundungen für eine Mitgliedschaft sammelte die AfD dort ein, las ich in einem Facebook-Post. Bei 550 Einwohnern! Übrigens: Lediglich eine Wahlkampfzeitung steckte in unserem Briefkasten. Das leuchtende Blau war nicht zu übersehen.

Die Partei AfD wirbt auf Wahlplakaten um Wählerstimmen.
Die Partei AfD wirbt auf Wahlplakaten um Wählerstimmen.
(Foto: IMAGO/imagebroker)

Etablierte Parteien erleben Erosion in der Fläche

Das spiegelte auch mein Stimmzettel für die Gemeinderatswahl: 16 kandidierten für die AfD. Mit Abstand die meisten. Halb so viele für die CDU, noch weniger bei der SPD. Für Auswahl sorgten immerhin noch Wählerinitiativen. Linke, Grüne, FDP dagegen - Sie wissen schon… Die etablierten Parteien durchleben im Osten Deutschlands eine Erosion in der Fläche. Nun ist die AfD in der 10.000 Menschen zählenden Einheitsgemeinde stärkste Kraft. Und was passiert: Der Haushalt, über den sich die Vorgängerräte mit der Verwaltung verbissen zerstritten - angenommen. Bei den Informationsveranstaltungen für die zahlreichen neuen Ratsmitglieder sollen die AfD-Vertreter am stärksten vertreten, die Interessiertesten und die Konstruktivsten gewesen sein.Doch so harmonisch, ja geradezu harmlos geht es nicht überall und auch nicht immer zu. Die AfD möchte gerne konservativ-patriotisch erscheinen, doch maßgebliche Frontleute sind offen völkisch-nationalistisch. Bewerber mit rechtsradikaler Vergangenheit mischen sich auf den Listen der Partei mit Menschen mitten aus der Gesellschaft. Das ist ganz offensichtlich Strategie. Jüngst wählte die Landespartei einen Kandidaten auf einen aussichtsreichen Bundestagslistenplatz, der auf andere Art und Weise eine mehr als fragwürdige Vergangenheit hat: Porno-Darsteller, Exmatrikulation wegen des Erschleichens eines Studienplatzes mit einem gefälschten Zeugnis und Privatinsolvenz - so lauten die Vorwürfe. Von alldem nichts bei der Vorstellung, aufgedeckt danach von uns Regionalzeitungen, insbesondere die Kollegen der Volksstimme. Die Parteispitze deckt das derzeit. Noch?

AfD wird gewählt, weil sie einen Nerv trifft

Nicht deswegen, aber trotz alledem: Die AfD wird gewählt. Weil sie einen Nerv trifft, der all das zu verdrängen scheint. Vielerorts - und dies nicht nur im Osten - wenden sich Menschen von der aktuellen Politik und ihren Protagonisten ab. Sie haben Angst vor Krieg, Überfremdung und sozialem Abstieg. AfD und BSW sind ihr Sammelbecken, weil sie sich bei ihnen mit ihren Sorgen wiederfinden. Die etablierten Parteien sind ja auch nicht (mehr) da oder wirkt abgehoben in der Berliner Blase.Die ostdeutsche Bevölkerung hat der westdeutschen eine Erfahrung voraus: Hier hat vor 35 Jahren der Druck der Straße das SED-Regime gestürzt. Das macht mutiger - und unberechenbarer. Parteienbindungen gab und gibt es seither nicht. Dadurch sind die politischen Fliehkräfte auch weitaus größer.Ob ich da nicht verzweifelt sei und wieder in den Westen zurückwolle, fragte mich jüngst in Halle auf einer Geburtstagsfeier teilnahmsvoll eine gebürtige Dresdnerin, deren zugezogene beste Freundin sich nach süddeutschen Verhältnissen sehnt. Keinesfalls, entgegnet ich ihr. Ich finde, diese Konflikte und diese Situation muss man nicht nur aushalten, man muss sich ihnen stellen und mit ihnen umgehen - und zwar nicht mit Brandmauern oder Unvereinbarkeitsbeschlüssen.

Grenzen ziehen, ohne auszugrenzen

Es gilt, genau hinzuschauen. Grenzen ziehen, aber nicht von vornherein ausgrenzen. Letzteres geht übrigens ganz praktisch schon nicht, wenn ein Drittel im Umfeld zur AfD-Wählerschaft gehört. Sich gegenseitig ernst nehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen - vor Ort sollte, ja muss das möglich sein. Und ich bin froh, in Sachsen-Anhalt zu leben. In einigen thüringischen und sächsischen Landstrichen können Kontroversen gefährlich werden, trauen sich Journalisten nur in Begleitung von Sicherheitsdiensten auf Demos, melden Menschen mit Migrationshintergrund bestimmte Bereiche. Hier droht eine Gesellschaft zu kippen.Was kommt da auf uns zu? Die Frage ist berechtigt. Aber es gibt auf sie nicht die eine Antwort.Soweit mein Versuch für den Blog des geschätzten Kollegen. Wie ist Ihre Meinung – schreiben Sie mir gerne.

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Nun wünsche ich Ihnen einen nicht allzu stürmischen Oktoberanfang!

Mit besten GrüßenMarc RathChefredakteur