Zugunglück von Hordorf Zugunglück von Hordorf: Die Angst fährt mit
Hordorf/Berlin/MZ. - Ihre Therapeutin hat ihr abgeraten. Was sie macht, sei ein Hardcore-Programm, hat sie gesagt. Doch Cindy Aßmann kann nicht anders. "Ich bin so. Das ist meine Art, mit Angst umzugehen", sagt die 31-Jährige. Als ein Motorrad sie einmal erschreckt hat, nahm sie prompt Fahrstunden. Und nun? Fährt sie Bahn, immer und immer wieder. Obwohl sie weiß, dass sie kalkweiß sein wird, wenn sie aussteigt. Dass sie dann "wem auch immer" dankt, "dass ich aussteigen durfte, nicht herausgeholt werden musste".
Cindy Aßmann ist eines der Opfer des Zugunglücks von Hordorf. Die 31-jährige Berlinerin war an jenem Januarabend 2011 im Harz-Elbe-Express unterwegs zu Bekannten, als es zu der für zehn Menschen tödlichen Katastrophe kam. Sie hat im Zug ein Buch gelesen. Wenn sie das erzählt, dann mit vielsagendem Blick. "Die Kunst, trotz allem gelassen zu sein", war der Titel. Es klingt unglaublich, im Nachhinein. Ebenso wie die Geschichte von betrunkenen Jugendlichen, denen sie so dankbar ist.
Damals haben sie sie nur genervt. Das Bier in der Hand, laut, rülpsend saßen sie in Aßmanns Nähe. Als die Geräusche ekliger wurden, hat es gereicht: Die Berlinerin wechselte vom vorderen in den hinteren Zugteil, die Jugendlichen stiegen später in Oschersleben aus. "Ich bin froh, dass sie sich danebenbenommen haben. Den Jungs verdankte ich sicher mein Leben." Wer vorn im Zug saß, hatte wenig später kaum eine Chance.
Fast minutiös ist Aßmann alles in Erinnerung, obwohl ihr damals jegliches Gefühl für Zeit, Schmerz und Kälte fehlte. Sie berichtet von der Vollbremsung, dem Knall, wie ihr etwas gegen Kopf und Bein flog, sie durch das Abteil geschleudert wurde. Von der Totenstille, der Dunkelheit danach. Davon, dass sie sich fragte, was das gerade war, und dann sofort dachte: "Du redest mit dir selbst, also lebst du."
Folgen bis heute zu spüren
Seitdem sind fast zwei Jahre vergangen. Körperlich ist Cindy Aßmann glimpflich davongekommen, vergleichsweise wenigstens: eine Platzwunde am Kopf, ein Bruch des Wadenbeinkopfes, Prellungen an der gesamten linken Körperseite. Der Schmerz, erzählt sie, hat erst nach zwei Wochen richtig eingesetzt, "solange wird wohl mein Schockzustand gedauert haben."
Das Bein spürt sie heute bei jedem Wetterwechsel, Kopfschmerzen kommen häufiger. Und da ist die Narbe an der Stirn, über die sie die Haare legt. Das Gravierende aber sind psychische Folgen. Die Weinkrämpfe, die sie anfangs bekam, obwohl sie so gar nicht zu ihrer forschen Art passen. Die Krise, in die sie zum ersten Jahrestag rutschte, als sie plötzlich hypersensibel auf Kleinigkeiten reagierte.
Von Anfang an hat sich Aßmann ihrer Angst gestellt. Zwei Tage nach dem Unglück ist sie mit dem Zug nach Hause gefahren. Nach drei Wochen war sie zurück in Hordorf, am Unglücksort. "Ein komisches Gefühl. Aber ich hab's gebraucht." Hier und da hing noch Polizeiband, Scherben lagen herum - eine davon liegt heute in ihrem Wohnzimmerschrank. Und immer wieder sieht sie sich Fotos vom Unglück an, verfolgt jeden Bericht, bis heute. Es ist wie das Zugfahren: Aßmann konfrontiert sich mit dem Problem, etwas, was sie wenigstens selbst tun kann.
Dabei zuckt sie bei jedem Zug zusammen, um ihn dann wütend anzustarren und gedanklich anzubrüllen: "Du kriegst mich nicht klein!". Inzwischen hat Aßmann einen Partner in Rheinhessen, zweimal im Monat nimmt sie die sechs-, siebenstündige Fahrt dorthin auf sich. Und merkt: Verarbeitet ist das Drama von Hordorf keineswegs. Was sie gar nicht verträgt ist, wenn ihr Zug bremst - ohne vorherige Durchsage à la "In Kürze erreichen wir...", ohne dass sie von Baustellen weiß. "Dann wird mir heiß, kalt, schwarz vor Augen." Im Alltag scannt sie pausenlos ihre Umgebung ab, um jedes unerwartete Geräusch, das sie in Panik versetzt, schneller einordnen zu können.
Eingeschränkt vermittelbar
Vor dem Unfall wollte Aßmann - Kauffrau für Bürokommunikation und weitergebildet als Lohnbuchhalterin - gerade ihre Elternzeit nach der Geburt des zweiten Sohnes beenden. Jetzt wird sie bei der Arbeitsagentur als eingeschränkt vermittelbar geführt. Einmal pro Woche ist die Berlinerin bei ihrer Psychologin zur Therapie. Recht schnell nach dem Unglück kam der Kontakt zu einer Bahnpsychologin zustande, erzählt sie. Selber einen Therapeuten zu finden sei schwer gewesen. "Ich war nicht suizidgefährdet, also hat es gedauert."
Als Aufwandsentschädigung und Schmerzensgeld habe sie bald 2 000 Euro von der Versicherung erhalten - "da wollen mein Anwalt und ich noch was tun". Dazu kamen 1 500 Euro Spenden. Die Diakonie, die letztere verwaltete, "war richtig top", sagt die Berlinerin. Immer wieder fragte sie dort auch nach Amalia, dem damals zehnjährigen Mädchen, das bei dem Unglück Mutter, Schwester und Stiefvater verlor, selbst lange im Koma lag. "Es verging kein Tag, an dem ich nicht an Amalia gedacht habe", so Aßmann. Heilfroh ist sie, dass sie ihre beiden Söhne damals nicht dabei hatte.
Und dann: Kam der vergangene Mittwoch und im Landgericht Magdeburg ihre erste Begegnung mit dem Lokführer des Güterzugs, der damals ein Haltesignal überfahren, den Unfall verursacht hat. "Das erste halbe Jahr habe ich ihn jeden Tag verflucht", sagt Aßmann. Dann kamen die Fragen: Was ist er für ein Mensch, wie würde es dir in seiner Situation gehen? Wut und Hass sind verschwunden. Ob er in Haft muss oder als freier Mann aus dem Gericht geht - es ist Aßmann heute egal. "Er muss mit dem leben, was passiert ist."
Wütend ist sie darauf, dass nur gegen ihn verhandelt wird. "Das ist am einfachsten", sagt sie verbittert. Dabei war es die Deutsche Bahn, die die eingleisige Strecke bei Hordorf nicht mit einer Technik gesichert hat, die Züge beim Überfahren von Haltesignalen automatisch bremst. Sie war nicht vorgeschrieben. Dennoch: 20 000 Euro soll die Anlage gekostet haben, als sie später installiert wurde. 20 000 Euro im Vergleich zu Menschenleben. Der Lokführer, sagt Aßmann, "der sitzt schon richtig dort, wo er sitzt". Auf der Anklagebank. "Aber dass er da allein sitzt, ist falsch."