Medien in Ostdeutschland Digital statt gedruckt: Wie eine Zeitung in Thüringen gegen steigende Kosten kämpft
Im Frühjahr wollte die „Ostthüringer Zeitung“ einen Teil ihrer Auflage nicht mehr gedruckt, sondern digital zustellen – um die galoppierenden Vertriebskosten in den Griff zu bekommen. Viele Leserinnen und Leser waren empört. Jetzt ist ein Kompromiss gefunden.
Gera/MZ - Renate Färber hat sich arrangiert, notgedrungen. Was blieb ihr auch anderes übrig? Wenn jetzt also die Postbotin mittags die Zeitung in den Briefkasten steckt, legt Färber das Blatt bis zum nächsten Tag weg. „So habe ich morgens immer was zu lesen. Wie bisher.“ Dass die Nachrichten und Berichte dann einen Tag älter sind, die Rentnerin stört es nicht. Entscheidend sei: „Die Zeitung ist doch der Kontakt zur Außenwelt.“
Renate Färber lebt in Cossengrün im thüringischen Vogtland, tief im äußersten Südosten des Freistaates, eingebettet in Hügel, Wälder und Felder. Cossengrün, das sind 370 Einwohnerinnen und Einwohner, eine Bäckerei, die nur noch zwei Mal in der Woche geöffnet hat, ein Kindergarten, ein Dorfgemeinschaftshaus, ein Dorfverein, die Feuerwehr. Der Bus fährt nur auf Anruf. Für Einkäufe sind Menschen ohne Auto – in der Regel die Älteren – auf die Hilfe von Kindern, Enkelkindern oder Nachbarn angewiesen.
300 Abonnentinnen und Abonnenten sollten die OTZ nur noch digital erhalten
Und jetzt, so haben es manche in Cossengrün im Frühjahr empfunden, wollen sie uns auch noch die Zeitung wegnehmen.
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Seit Jahrzehnten lesen viele hier das örtliche Regional- und Lokalblatt, die Ostthüringer Zeitung (OTZ). Im Frühjahr startete der Verlag, die Funke-Mediengruppe aus Essen, ein damals bundesweit einmaliges Experiment.
Rund 300 Abonnentinnen und Abonnenten in Cossengrün und zehn anderen Dörfern im südöstlichen Zipfel Thüringens sollten die tägliche OTZ nicht mehr gedruckt erhalten, sondern digital, als E-Paper, lesbar auf dem Tablet. Der Grund: Die Kosten der Zustellung in der dünn besiedelten ländlichen Region liefen aus dem Ruder. Ein Problem, das alle Medienhäuser trifft.
Die Zeitung ist doch der Kontakt zur Außenwelt.
Renate Färber, Rentnerin in Cossengrün
Digital statt Papier – ist dieser Plan aufgegangen? Ja und nein. Nils Kawig sitzt an einem Besprechungstisch in seinem Büro in der Innenstadt von Gera. Der Chefredakteur der OTZ hat einen Laptop vor sich, auf dessen Bildschirm jetzt Kevin Tarun zugeschaltet wird, der Vertriebsleiter der OTZ. Im Gespräch mit der MZ schildern beide ihre Erfahrungen mit dem Digitalprojekt.
Zunächst die Zahlen: Ein gutes halbes Jahr nach dem Start hätten 36 Prozent der rund 300 betroffenen Leserinnen und Leser gekündigt, sagt Tarun. 29 Prozent seien auf ein Digital-Abo umgestiegen. Und 35 Prozent bekämen nach wie vor ihre gedruckte Zeitung, nun allerdings geliefert per Post, nicht mehr von Zustellern des Verlages.
Einen Stapel Zeitungen zum Bäcker bringen? Das hätte an den Kosten nichts verändert
Die Postzustellung sei anfangs nicht geplant gewesen, sagt Kawig. „Allerdings gab es schnell viele Vorschläge aus der Leserschaft, wie sie doch noch ihre Printzeitung behalten könnten.“
Einen davon verwarf der Verlag sofort wieder: ein paar Exemplare zum örtlichen Bäcker fahren, die dort abgeholt werden können. „Das hätte an unseren Kosten nichts geändert“, sagt Vertriebschef Tarun. Die Postzustellung dagegen erwies sich als machbar – nachdem klar war, dass die Post in Cossengrün noch jeden Tag kommt.
Renate Färber ist froh darüber – und sie ist nicht die einzige, die so weiterhin täglich eine gedruckte Zeitung erhält. „Davon konnte ich auch meine alten Leute überzeugen.“ Sie meint Nachbarn, die weit über 90 seien. „Wie sollen die denn mit einem Tablet zurechtkommen?“
Sie selbst sei ja erst 79, sagt die agile Frau, die sich auch im Ortschaftsrat engagiert. „Ich hätte das gekonnt. Aber ich habe darauf verzichtet, quasi aus Solidarität.“ Färber redet sich jetzt in Rage: „Über Jahre haben wir trotz aller Preiserhöhungen der OTZ immer die Treue gehalten, und dann das!“
Schulungen in Feuerwehrhäusern und Vereinsheimen
Auch Chefredakteur Kawig spricht von einer sehr treuen Leserschaft in Cossengrün und den anderen Dörfern. „Uns war klar, das wird eine Herausforderung, die Menschen von der Digitalisierung zu überzeugen. Und es war klar, dass wir dem einen oder anderen weh tun würden“, sagt er.
Dass jetzt auch die Zeitung weg sei, nachdem schon der Bus nicht mehr fahre, ja, so etwas hätten sie vereinzelt auch zu hören bekommen. Dabei, das betont Vertriebsleiter Tarun, sei die Umstellung aufs Digital-Abo ja kein Rückzug aus dem Journalismus, sondern quasi „eine andere Darreichungsform“.
So haben sie bei der OTZ alles aufgefahren, was geht, um ihren Leserinnen und Lesern die digitale Welt schmackhaft zu machen: Sie haben in Feuerwehrhäuser und Vereinsheime eingeladen, haben erklärt, wie man Zeitung auf dem Tablet liest, dass man die Schriftgröße einstellen kann, dass es eine zusätzliche digitale Sonntagsausgabe gibt.
Sie haben Multiplikatorinnen wie die Landrätin eingeladen, sie haben auch gleich das lokale Rufbus-System mit vorgestellt. „Es ging uns auch um die Digitalisierung des ländlichen Raums überhaupt“, sagt Tarun.
Und: Mancher ist ja auch überzeugt. Mike Lippold ist Chef der Feuerwehr in Kurtschau, wo die OTZ ebenfalls die digitale Offensive ausgerufen hat. Seine Eltern, erzählt er, würden schon seit einigen Jahren digital lesen.
„Für sie ist das okay, sie kommen gut damit klar.“ Einerseits, sagt Lippold, habe er Verständnis dafür, dass gerade Ältere an der Printzeitung festhalten würden, die sie über Jahrzehnte gewohnt seien. „Andererseits stellt die OTZ ja nicht aus Lust und Laune auf Digital um.“
Das Problem, erläutert Vertriebsleiter Kevin Tarun, sei die sogenannte letzte Meile – der Weg, den ein Zustellauto zurücklegt von einem Depot, in dem es die Zeitungen einlädt, bis zu den Briefkästen. Je länger diese Strecke ist, desto teurer wird es. Auf einer der betroffenen Touren, berichtet Tarun, habe die Zustellerin 25 Kilometer zurückgelegt, um überhaupt den ersten Briefkasten zu erreichen. Pro Tag kämen so mehr als hundert Kilometer zusammen.
Der OTZ-Chefredakteur ist überzeugt: Digitalisierung ist das Zukunftsmodell
Und nun? War das Projekt ein Erfolg? Vertriebsleiter Tarun sagt: „Aus wirtschaftlicher Sicht ja. Vor der Umstellung haben wir draufgezahlt, damit die 300 Abonnentinnen und Abonnenten jeden Tag ihre Zeitung im Briefkasten haben. Das ist jetzt nicht mehr so.“
Chefredakteur Kawig sagt: „Aus redaktioneller Sicht kann ich mit 29 Prozent Umsteigern auf das Digital-Abo nicht zufrieden sein. Ich hatte gehofft, an die 50 Prozent zu kommen, bei dem Aufwand, den wir betrieben haben.“ Dieser sei zu groß, um das Projekt in dieser Form fortsetzen zu können.
Dennoch ist er überzeugt: Angesichts hoher Zustellkosten und einer schwindenden Print-Leserschaft sei Digitalisierung das Zukunftsmodell. „Wir haben mit dem Projekt aber keine Blaupause dafür gefunden.“ Gleichwohl hätten die Anstrengungen sich gelohnt – wegen der „intensiven Gespräche“ mit Leserinnen und Lesern in den Dörfern: „Wir haben dabei so viel gelernt: Wie unsere Leserschaft tickt, welche Bedürfnisse sie hat. Das können wir mitnehmen.“
Die Madsack-Mediengruppe geht derweil noch weiter: In der Prignitz (Brandenburg) erscheint die Lokalausgabe der „Märkischen Allgemeinen“ seit Oktober nur noch digital. Im Dezember sollen zwei weitere Ausgaben folgen.
Wenn dort über den Erfolg des Enkels beim Fußball berichtet wird, dann kann man sich das noch irgendwo abspeichern. Als stolze Großeltern die Zeitung aufheben oder gar den Artikel ausschneiden, das kann man nicht mehr.