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Shopping-App Weihnachtseinkauf mit Temu: Chinas Weihnachtsmann bringt Socken für fünf Cent

Alle reden von Nachhaltigkeit, alles schwärmt vom regionalen Einkaufen und handgemachten Geschenken. Der Star im Weihnachtsgeschäft aber ist ein Online-Laden, der auf das alles pfeift.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 19.12.2023, 16:30
Einkaufen wie ein Milliardär: Die chinesische App Temu lockt mit Billigpreisen. 
Einkaufen wie ein Milliardär: Die chinesische App Temu lockt mit Billigpreisen.  Foto: Temu

Halle (Saale)/MZ. - Es wird immer noch später, je später es wird. Irgendwo zwischen Schanghai und Hamburg bewegt sich das Paket vorwärts, viel zu langsam allerdings, um den versprochenen Liefertermin noch erreichen zu können. Für viele Internethändler wäre das ein ernsthaftes Problem.

Für die Betreiber der Shopping-App Temu aber ist es eine gute Gelegenheit, noch einen Satz verführerischer Werbebotschaften abzusetzen. Kommt das Päckchen nicht bis dann und dann, gibt es beim nächsten Einkauf soundsoviel Zusatzrabatt. Und dauert es noch länger, dann schnell das nächste Einkaufskörbchen füllen, denn auf den Rabatt legt das erst knapp anderthalb Jahre alte Online-Kaufhaus noch einen Extra-Preisnachlass drauf.

Temu: Shopping-App aus China lockt mit satten Rabatten

Bei der chinesischen Firma mit Hauptsitz in Boston in den USA, die eine Tochter der im irischen Dublin beheimateten Schanghaier Pinduoduo Holdings ist, wird jeder Blick und jeder Klick zum Marketing genutzt.

Im Gegensatz zu etablierten Plattformen wie Amazon, Zalando oder Ebay setzt Temu nicht auf eine Internetseite, die durch eine App ergänzt wird. Temu – die Abkürzung soll für „Team up, price down“ („Zusammen senken wir den Preis“) stehen und als „Tii-Muh“ ausgesprochen werden – macht es andersherum.

Zehn Paar Socken kosten 48 Cent: Und alles geht noch günstiger.
Zehn Paar Socken kosten 48 Cent: Und alles geht noch günstiger.
Collage: Steffen Könau

Das Handyprogramm ist der Hauptladen, ein Einkaufszentrum auf dem Telefon, das blitzt, blinkt und über dem ein Bombardement aus Benachrichtigungen über Sonderangebote niedergeht. Alles ist billig, und auf alles gibt es mindestens noch einmal Nachlass. Dauernd können Glücksräder gedreht und die Kaufpreise reduziert werden. Nur wer noch mehr kauft, bezahlt noch weniger.

Pinduoduo-Gründer Colin Huang: Milliardengewinne aus dem Nichts

Für Pinduoduo-Gründer Colin Huang, der sich Temu ausgedacht hat, ist der Billigbasar mit bis heute weit über 750 Millionen Nutzern nicht die erste erfolgreiche Firmengründung.

Der heute 43-jährige Arbeitersohn aus der chinesischen Ostküstenmetropole Hangzhou ging nach einem Studium der Computerwissenschaften in die USA, um bei Microsoft und Google zu arbeiten. Für Google baute er später das Geschäft in China mit auf. Vor 16 Jahren aber macht sich Huang selbstständig.

Acht Jahre später setzt seine Firma Pinduoduo bereits Millionen um. 2019, ein Jahr nach dem Börsengang in den USA, liegen die Gewinne bei mehr als vier Milliarden Euro.

Temu, in Deutschland erst im Sommer gestartet, bietet als jüngste Firmentochter alles das, was in Zeiten des Klimawandels verpönt ist. Gekauft werden Hosen, Jacken, Zelte, Haushaltswaren, Schuhe, Spielzeug und Elektronik hier nicht, weil sie benötigt werden, sondern weil sie unwiderstehlich günstig sind.

Eine Lederhülle fürs Handy kostet 1,83 Euro, ein paar Wanderstiefel 16, eine Ukulele gibt es für 27,98 Euro, Damenmode ab 7,99. Ein „klassischer bequemer Weihnachtsmantel“, angeboten mit „Brosche, Strümpfen und Haarspange“, ist für 39 Cent zu haben. Zehn Paar Socken kosten 48 Cent, und das billigste Kleid für Dreijährige − Modell „Süße kleine Biene“ − schlägt mit schmalen 2,50 Euro zu Buche.

Shopping-App Temu: Gelegenheit macht Kunden

Hier kauft niemand ein, der etwas braucht. Hier macht Gelegenheit den Konsum. Alle reden von Nachhaltigkeit, alle schwärmen vom regionalen Einkaufen und handgemachten Geschenken.

Doch der größte Star im Weihnachtsgeschäft dieses Jahres ist ausgerechnet ein Online-Laden, der auf das alles pfeift und genau das Gegenteil als Geschäftsmodell betreibt. Schnell. Viel. Billig. Technisch vielleicht minderwertig. Auf jeden Fall keine Markenware, an der irgendwer in drei, fünf oder zehn Jahren noch seine Freude haben wird. Vom anderen Ende der Welt eingeflogen. Dafür aber so unsagbar preisgünstig, dass sich selbst das sofortige Wegwerfen noch lohnt.

Temu versichert zwar, dass ökologische Nachhaltigkeit zu den Grundwerten der Firma gehöre. „Wir gleichen für jede Bestellung die Kohlenstoffemissionen aus, um unseren CO₂-Fußabdruck zu kompensieren und unseren Beitrag dazu zu leisten, den Planeten zu schützen.“ Doch ob das Billigparadies das wirklich tut, ist kaum nachzuvollziehen.

Das Gleiche gilt für die Standards bei den Arbeitsbedingungen, die Hersteller und Händler einhalten müssen, wenn sie bei Temu verkaufen wollen. Vorgeschrieben ist es offiziell. Die Schwierigkeiten, die europäische Unternehmen allein aufgrund der Zahl ihrer Zulieferfirmen bei der Umsetzung der neuen EU-Regel zu sogenannten sicheren Lieferketten haben, lassen aber erahnen, dass die Temu-Zusicherung der Kundschaft eher ein gutes Gefühl vermitteln soll, als wirklich für angenehme Arbeitsatmosphäre in den Herstellungsbetrieben des Plastikplunders zu sorgen.

„Shoppen wie ein Milliardär“

Jeder soll „Shoppen wie ein Milliardär“, verspricht der Temu-Werbeslogan. Und niemand soll Gewissensbisse haben. Eine Strategie, die aufgeht.

Vor allem jüngere Kunden werden magisch angezogen von den unwiderstehlichen Angeboten, die das Unternehmen selbst auf Social-Media-Kanälen wie Instagram, Youtube und TikTok bewirbt, mehr aber noch von allerlei Influencern bewerben lässt.

Einnahmen von „bis zu 100.000 Euro jeden Monat“, verspricht Temu fürs Mitmachen. Mehr als 10.000 sogenannte Content Creators, heißt es, gäben schon „Empfehlungen und Bewertungen von Temu-Produkten ab“, um „ihr Publikum über soziale Medien zu inspirieren“.

Temu: Wer billig kauft, kauft doppelt

Wer billig kauft, kauft doppelt, das gilt zwar immer noch. Aber bei Temu ganz anders. Halbe Preise für eins wecken den Wunsch, zwei zu nehmen. Und wer zwei so günstig bekommen kann, der legt noch ein drittes und viertes in den virtuellen Einkaufskorb. Kohlendioxidbilanz hin, nachhaltiges Leben her. Mehr Artikel im Paket bedeuten ja auch weniger Luft in der Versandverpackung, heißt es bei Temu. Das sei gut die Umwelt.

Argumente, die offenbar ausgerechnet bei der Generation gut ankommen, in der die Klimabewegung Fridays for Future und der radikale Protest der „Letzten Generation“ entstanden. Schon vor einigen Jahren hatte das Smartphone bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Tablet, Computer und Laptop als Hauptzugangsgerät zum Internet abgelöst.

Während bei Amazon inzwischen etwa drei Viertel der Kundschaft zumindest auch am Handy einkauft, sind es bei Temu vermutlich nahezu alle. Kein Wunder, denn die Kunden sind hier jünger, sie haben weniger Geld, aber viel mehr Wünsche als Ältere.

Temu wirkt auf diese Käuferschicht wie eine psychologische Waffe: Immer tickt irgendwo ein Countdown, immer heißt es schnell sein, um ein Schnäppchen noch günstiger abzustauben. Ist die Zeit abgelaufen, beginnt einfach alles von vorn.

Kaufen wird mit Temu zum Spiel

Kaufen wird zum Spiel, das „Werte für Kunden schaffen“ soll, wie es bei Pinduoduo offiziell heißt. Das aber vor allem funktioniert, weil es die gewohnten Maßstäbe zwischen Wert und Preis außer Kraft setzt. Wenn ein Handyladegerät oder ein schicker Rucksack nicht mehr kosten als ein Glas Wasser im Restaurant, was kann ein Kunde da falsch machen?

Wenn sich auch noch das Rabattrad drehen und ein 50- oder 90-prozentiger Preisnachlass erspielen lässt? Mag der Kopfhörer oder die Smartwatch dann auch nicht so funktionieren wie erhofft. Das Risiko ist gering.

Im Unterschied zu Amazon oder Zalando ist Temu dabei nicht selbst Verkäufer. Die Firma bietet nur die Plattform für die Anbieter, die „Kunden direkt mit kosteneffizienten Herstellern zusammenbringt“, wie das Unternehmen beschreibt. Gespart wird dabei, wo es geht: Statt Pakete zu versenden, werden Tüten genutzt. Um Zollgebühren möglichst zu vermeiden, liegt kaum ein Preis über der Zollgrenze von 150 Euro.

Zudem ist die Temu-App nicht nur dazu da, Waren anzubieten und Verkäufe abzuwickeln. Die App verlangt Zugriff auf Fotos, das Adressbuch und die WLAN-Daten.

Alles wird nach Hause übermittelt und hilft dort, Trends zu erkennen, Angebote mit Hilfe künstlicher Intelligenz zu optimieren und Preise anzupassen. Verbraucherschützer warnen deshalb davor, die Temu-App dauerhaft auf dem Handy zu belassen.