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Wendegeschichten Wendegeschichten: Zwischen Elend und Sorge

Von BERNHARD HONNIGFORT 21.10.2009, 19:33

ELEND/MZ. - Elend und Sorge, das waren nicht nur real-sozialistische Zustände, sondern auch zwei kleine Dörfer hoch oben im Ostharz. Ende der 70er Jahre, als der Witz in der DDR kursierte, griff der berüchtigte DDR-Fernsehjournalist Karl-Eduard von Schnitzler den Kalauer auf und drehte einen Film in Elend und Sorge, vermutlich um nachzuweisen, wie großartig es im Arbeiter- und Bauernstaat zuging. In dem Film trat ein Musiker mit seiner Combo auf, der "Kukki". Jürgen Kurkiewicz, Kulturoffizier der NVA und Major der Grenztruppen. Soviel zur Vorgeschichte.

"Kukki" gibt es immer noch. Sie nennen ihn heute den "Erbsensuppen-Millionär". Er wohnt in Elend, 400 Einwohner, in einem schicken Haus. Er ist 67, stürmt dem Besucher entgegen, trägt eine bleistiftdicke Goldkette und eine verwegene Brille. Er ächzt und brummelt ein bisschen und duzt sofort jeden. Er sagt: "Ich habe nichts vermisst in der DDR."

"Kukki" ist ein reicher Mann. Ein Mann, der überall und zu allen Zeiten zurechtkommt. Vielleicht, weil er immer schon ein sehr anpassungsfähiger Kapitalist in eigener Sache war. Zu DDR-Zeiten, als Kulturoffizier, da machte er Musik. In den Kasernen der Grenztruppen. Er spielte vor Stasi-Chef Erich Mielke und dreimal vor Geheimdienstler Markus Wolf. Er kannte jeden, er verdiente viel Geld. Als seine 25 Jahre als singender Offizier vorbei waren, da kaufte er sich drei Ladas und wurde Taxiunternehmer. Und als dann in Berlin am 9. November 1989 die Mauer fiel, als sich mit ein paar Tagen Verspätung auch im Harz der Grenzzaun öffnete und Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) auftauchte, um sich anzusehen, wie DDR aussieht, da stand der "Kukki" mit seiner Combo "Galaxis" da.

"Kukki" sitzt in seinem Ledersofa und erzählt: "Am Anfang waren Erbsen, am Ende sind Erbsen." Er hat durch sein prächtiges Haus geführt, den Mercedes-Geländewagen, den Transporter und den Motorschlitten in der Tiefgarage präsentiert. 1991, als er Taxiunternehmer war, fuhr er auf der Straße nach Braunlage einen Hirsch tot. Er nahm das Tier mit, ließ es zerlegen und Gulasch daraus machen. Er hatte alte Gulaschkanonen aus NVA-Beständen besorgt und verkaufte fortan Suppe an Wanderer. Zuerst Gulasch-, dann Erbsensuppe. Er machte ein kleines Gasthaus auf. Er reiste in die USA und bekam dort den Tipp, seine Suppe in Dosen abzufüllen und per Internet zu verkaufen. Er kaufte sich eine Suppenküche, trat im Fernsehen auf, wurde eine Harzer Berühmtheit.

"Ich bin kein Wendehals", sagt er. "Ich war immer so." Er fährt durch Elend, zeigt, wo seine erste Imbissbude stand. Das ehemalige Gästehaus der Stasi, wo er vor Markus Wolf auftrat? Ist heute eine Pension. Hat er vor Jahren gekauft. Ebenso das Grundstück für sein vor neun Jahren gebautes Haus: "1 200 Quadratmeter für eine Mark", freut sich "Kukki".

in Stück Grenze blieb stehen

Ein paar Kilometer entfernt, die Landtrasse entlang. Von Elend nach Sorge. Dazwischen? Nur nasser Wald und tiefhängende Regenwolken. Sorge, 100 und ein paar Einwohner. Hotel Sonnenhof, Rolf Tronnier nippt an seinem Cappuccino. Ein schönes, neues Hotel, sein Sohn betreibt es. Tronnier, 79 Jahre alt, volles silbernes Haar. Er erzählt mit Bedacht. Seine Geschichte geht so: Er war von 1970 bis 2001 der Bürgermeister. Als die Grenze gefallen war und die Pioniertruppen kamen, da lief er hin mit einer Kiste Bier, sprach mit einem Hauptmann und der ließ ein paar Meter Grenze und einen Turm stehen. "Das durfte doch nicht alles verschwinden", sagt Tronnier.

In Sorge lebten 300 Menschen. Nach ein paar Monaten war die alte Gießerei am Ende, der Betrieb für Arbeitsbekleidung ebenso, die Arbeitslosigkeit lag bei über 40 Prozent. An einem Sonntagmittag standen 15 Leute aus Sorge vor Tronniers Haus. Sie hatten ihre Arbeit verloren, sie verstanden die Welt nicht mehr. "Sie riefen: Bring das mit der Grenze in Ordnung! Mach sie wieder zu."

Damals kam der Johannes zurück. Tronnier kannte ihn noch als kleinen Jungen. Seine Familie war mit ihm in die alte Bundesrepublik gezogen. Ihnen hatte die Eisenhütte gehört. Eines Tages war der kleine Johannes wieder da. Er war sehr freundlich. Er hatte Anwälte dabei. Er stellte Rückübertragungsforderungen: 40 Hektar Wald, das alte Gasthaus Sorgenfrei, 15 Häuser nebst Land. 15 Häuser, das ist das halbe Dorf. Es hat nur 36. Tronnier erzählt und sein weicher, langsamer Ton verrät, wie bitter die folgenden Jahre für ihn gewesen sein müssen. Die Häuser in der Bodetalstraße: Zu DDR-Zeiten hatten sie feierabends Toiletten eingebaut, hatten die Dächer repariert. Sie hatten alles, was ging unternommen, um den Verfall zu stoppen. "Bei uns ist nichts verkommen", sagt Tronnier.

Viele Häuser stehen leer

Der kleine Johannes und seine Anwälte siegten. Vor Gericht bekam er die Häuser zurück, auch den Wald und die Wiesen. "Ich mache alles neu", habe er damals versprochen. Ein Haus in der Bodetalstraße wurde renoviert. Der Rest verfiel vollends. "Nichts hat er gemacht, alles ist schlechter geworden", sagt Tronnier. 2008 starb der Johannes als alter Mann.

"Er hat mich fast gehasst", sagt Tronnier. Er geht durch die Bodetalstraße. Leer, leer, leer. Er deutet auf alte Fachwerkhäuser, einen alten Stall, auf kaputte Dächer und zugenagelte Fenster. Auch das eine Haus, das renovierte Fachwerkhaus - es steht seit Jahren leer. "Hier zieht nie jemand ein", sagt er.

An der Straße bei Drei Annen Hohne dampft "Kukkis" Gulaschkanone. Davor eine Schlange Wartender. 2,50 Euro das Schälchen Erbsensuppe, 3,50 Euro mit Bockwurst. "Kukki" ist vergnügt. Das Geschäft läuft. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen beim Reden. Viele Grenztruppenoffiziere von damals, erzählt er lachend, die würden sich heute als Opfer darstellen. "Was für ein Quatsch", sagt er und lacht. Sein halbes Leben war er in der SED, heute wählt er CDU. Ja, den Witz vom Sozialismus zwischen Elend und Soge, klar, den kenne er. Habe er x-mal auf der Bühne erzählt. Ja, der Sozialismus. Er macht einen kleinen Moment Pause. "Ich", sagt er, "ich hatte Narrenfreiheit."