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Weihnachten im Kinderheim Weihnachten im Kinderheim: Berührend - aber nicht so traurig

Von Alexander Schierholz 23.12.2015, 18:11
Demian (Mitte), Florian und Teamleiterin Kerstin Ackermann warten auf die Bescherung. Das Heim finanziert seine Aktivitäten zum Teil durch Spenden. Der Verein „Wir helfen“ der MZ hat es mehrfach unterstützt.
Demian (Mitte), Florian und Teamleiterin Kerstin Ackermann warten auf die Bescherung. Das Heim finanziert seine Aktivitäten zum Teil durch Spenden. Der Verein „Wir helfen“ der MZ hat es mehrfach unterstützt. Günter Bauer Lizenz

Krosigk - Am Ende ist es dann doch nicht das ersehnte Trikot von HFC-Starkicker Sören Bertram geworden, das er auf seinem Wunschzettel notiert hat. Sondern ein Handy. Demian hat es ausgepackt, den Karton und das Geschenkpapier achtlos auf den Stuhl neben sich geworfen und strahlt. Vielleicht ist ein Handy für einen Zwölfjährigen am Ende ja sogar viel cooler als ein Trikot. Obwohl man das in diesem Fall nicht sicher sagen kann, denn Demian ist nun wirklich der allergrößte Fan von Sören Bertram. „Der ist der beste!“, sagt er.

In tausenden Familien wird es heute Abend so zugehen, wenn zu Hause unterm Baum Bescherung gefeiert wird. Wenn die Spannung vor dem Aufreißen des Papiers steigt. Wenn Kinderaugen glänzen. Bloß dass Demian nicht zu Hause ist.

Für ihn findet die Bescherung zwei Tage vor Heiligabend im Kinderheim Krosigk nördlich von Halle statt. Und die rund 20 Kinder und Erwachsenen, die mit ihm zusammen um drei u-förmig gestellte große Tische sitzen, sind nicht seine Familie, sondern Erzieher und andere Kinder aus seiner Wohngruppe.

Klischeebilder an der Tür abgeben

Weihnachten im Kinderheim, das kann doch eigentlich nur traurig sein, oder? Hier das Fest der Liebe und der Familie, das Generationen zusammenführt, wenigstens für ein paar Stunden. Und da Kinder aus dem Heim, die eben deswegen dort sind, weil es zu Hause in der Familie, mit der Familie nicht mehr klappt.

Wer wissen will, wie Heimkinder Weihnachten feiern, muss sie besuchen. Und kann dabei die einschlägigen Klischeebilder an der Tür abgeben.

In dem großen Saal im Nebengebäude des Krosigker Kinderheims, in dem Demian und die anderen beschert werden, dudelt „Jingle Bells“ in Endlosschleife. An der Wand steht eine riesengroße Tanne, bunt geschmückt, elektrische Kerzen leuchten. Auf den Tischen: Teller mit Plätzchen, Stollen und belegten Brötchen. Es gibt Kaffee und Tee. Die Kinder müssen Gedichte aufsagen, ehe sie ihre Geschenke und einen bunten Teller bekommen.

Später überreichen sie ihren Erziehern Selbstgemachtes: Bügelflaschen, in Schichten gefüllt mit geraspelten Möhren, Erbsen, Reis, die ein buntes Muster ergeben. Heimleiterin Claudine Grumbach nimmt Demian dabei fest in den Arm. Berührend wirkt das alles, aber nicht traurig.

Wie die Kinder die Weihnachtszeit im Heim verbringen, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Weihnachten, eine kritische Zeit? „Nein“, antwortet Kerstin Ackermann, ohne groß zu überlegen. Die resolut-freundliche Frau, blonder Kurzhaarschnitt, Brille, ist Heilpädagogin. Sie leitet die Wohngruppe, in der Demian, drei andere Jungen und ein Mädchen zwischen im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren leben.

„Wir machen mit den Kindern das, was andere Kinder in der Weihnachtszeit mit ihren Eltern zu Hause machen“, sagt Ackermann. So haben sie gemeinsam Plätzchen gebacken, zum Adventskaffee den Tisch gedeckt, den Baum geschmückt. Denn Weihnachten, das ist ja mehr als Heiligabend, Bescherung und Feiertage voller Essen.

Nur eine Handvoll Kinder

Und an den eigentlichen Festtagen fahren die meisten Kinder ohnehin nach Hause, so auch Demian. Nur eine Handvoll Kinder wird in Krosigk bleiben. Die familiäre Situation lasse es nicht zu, sie nach Hause zu schicken, sagt Heimleiterin Grumbach. Deutlicher wird sie nicht, aus Rücksicht auf die Familien. Auch für diese Kinder fällt das Fest nicht flach: Es wird für sie noch einmal eine Bescherung geben, sie werden ein Krippenspiel besuchen, vielleicht gemeinsam etwas kochen.

Das Credo ihrer Arbeit beschreibt Wohngruppenleiterin Ackermann so: „Wir versuchen den Kindern Geborgenheit zu geben.“ Bei Demian und den anderen ist das eine besondere Herausforderung. Sie leben in der „Stib“, der „sozialpädagogisch-therapeutischen Intensivbetreuung“. Ein Begriff wie ein Hammerschlag, und sofort hat man wieder Klischees im Kopf: Problemkinder, schwer erziehbar. Kerstin Ackermann, die hier „Teamleiterin“ heißt, sagt es so: „Das sind unsere Kinder, die besonders viel Zuwendung brauchen.“ Erzieherisch, aber auch emotional.

In seinem Zimmer: HFC und Hertha

Der Personalschlüssel ist in dieser Gruppe höher als in den anderen. Um die vier Jungen und das Mädchen, ein Platz ist derzeit nicht besetzt, kümmern sich vier Erzieher. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, was nicht die Regel ist. Demian hat seines mit Fan-Utensilien ausgeschmückt. An der Wand hinter seinem Bett hängt ein blauer Schal von Hertha BSC. „Das ist auch mein Lieblingsverein“, sagt er. Neben dem HFC, natürlich.

Demian und sein Kumpel Florian werfen sich auf dem Bett in Pose, HFC-Schals um den Hals, einen Wimpel in den Händen. Dann darf MZ-Fotograf Günter Bauer ein Bild machen. Vor kurzem hat Demian selber mit dem Kicken angefangen, im benachbarten Nauendorf, D-Jugend. „Ab dem nächsten Jahr C-Jugend!“, erzählt er stolz.

Auf Seite 3: Wieviele Kinder im Krosigker Kinderheim leben und warum sie dort wohnen.

Demian gehört zu den knapp 30 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und 16, die derzeit im Krosigker Kinderheim leben; Träger ist die Arbeiterwohlfahrt. Es gibt unzählige Gründe, warum Kinder im Heim leben statt bei ihrer Familie. Einer aber gehört, zumindest in Krosigk, nicht dazu: „Die meisten denken, hier sind nur Waisenkinder“, sagt Heimleiterin Claudine Grumbach. Falsch: In dem alten Gutshaus lebt nicht ein einziges Waisenkind.

„Wir haben alles dabei“

Hierher kommen Kinder, deren Eltern mit der Erziehung überfordert sind. Weil sie psychische Probleme haben oder suchtkrank sind. Oder weil Sohn oder Tochter so verhaltensauffällig sind, dass Mutter und Vater nicht mehr mit ihnen klarkommen. Oder alles zusammen. „Manchmal entwickeln sich Kinder auch in der Pubertät so schwierig, dass Eltern sich Hilfe holen“, sagt Grumbach.

Es sind Eltern, die keineswegs nur aus sozial schwachen, zerrütteten Problemfamilien stammen. „Wir haben alles dabei, bis zum gut situierten Mittelstand“. Ihre Anlaufstelle ist in jedem Fall das Jugendamt, das über „Hilfen zur Erziehung“, so heißt das im Amtsdeutsch, entscheidet. Das können speziell geschulte Helfer sein, die in die Familien geschickt werden. Oder eben das Heim.

Während sie vom Arbeitsalltag erzählt, ist Demian von seinem neuen Handy in Beschlag genommen. Seine Patin, Christine Wenzel, ist gekommen. Sie schaut ihm über die Schulter, freut sich über seine Freude. Das HFC-Trikot? Nicht vergessen. Im kommenden Jahr will ja wieder ein Wunschzettel geschrieben werden. (mz)

Heimleiterin Claudine Grumbach freut sich über Demians Geschenk.
Heimleiterin Claudine Grumbach freut sich über Demians Geschenk.
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