Vorurteile von Nichtwählern Vorurteile von Nichtwählern: "Wenn Wahlen etwas ändern wären sie verboten"
Halle (Saale) - Am 13. März wird der neue Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt. Das elektrisiert nicht jeden. Viele Sachsen-Anhalter sind bei der Wahl 2011 zu Hause geblieben. Eine Studie hat ermittelt, warum das so war. Die Mitteldeutsche Zeitung setzt sich in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung mit Klischees und Vorurteilen von Nichtwählern auseinander. Heute: „Ich bin doch nicht blöd und geh’ wählen, wenn Wahlen etwas verändern könnten, dann wären sie verboten.“
Kein Kinderförderungsgesetz, keine Koalition - so lautete die Ansage der SPD in Richtung CDU 2011. Die Sozialdemokraten wollten das kurz Kifög genannte Vorhaben unbedingt durchboxen. Es beinhaltete den Anspruch aller Eltern im Land auf eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder. Genau davon waren Erwerbslose nämlich ausgeschlossen.
Der CDU konnte diese Forderung freilich nicht schmecken. Schließlich hatte sie die geltenden Regeln 2004 zusammen mit der FDP eingeführt. Doch die Liberalen flogen 2011 aus dem Landtag, die einzige Chance für die CDU an der Macht zu bleiben, war die Koalition mit der SPD. Im Ende 2012 wurde der Ganztagsanschluss dann Gesetz.
„Schullaufbahnempfehlung? Die wurde auf unsere Initiative hin abgeschafft – so stärken wir die Chancengerechtigkeit. Hierzu gibt es klare Ergebnisse: Kinder aus einem Akademikerhaushalt bekommen, bei gleicher Kompetenz, signifikant häufiger eine Empfehlung fürs Gymnasium als Kinder aus einem Arbeiterhaushalt. Das ist ungerecht. Das war für uns der Anlass zu sagen, das wollen wir nicht.“
„Die Anbindung an die Autobahn ist für viele Bürger und vor allem für Unternehmen wichtig. In meinem Wahlkreis in Merseburg gibt es im Süden der Stadt jedoch keinen Zubringer. Dafür, dass sich das ändert, habe ich mich in den vergangenen Jahren zusammen mit Kommunalpolitikern und Gewerbetreibenden stark gemacht. 2016 wird die Autobahnanbindung nun gebaut.“
„Im Zuge der Debatte um Kürzungen an den Hochschulen sollte die Landesgraduiertenförderung gestrichen werden. Mit dieser Förderung werden exzellente Nachwuchswissenschaftler bei ihrer Forschung unterstützt. Ich habe erreicht, dass das Programm bestehen bleibt. Zudem wurden die monatlichen Stipendien ab Januar 2016 sogar um rund 200 Euro erhöht.“
„Als Bildungspolitikerin war es für mich entscheidend, Fortschritte beim längeren gemeinsamen Lernen der Kinder zu erreichen. Das ist mit dem Projekt Gemeinschaftsschule in ersten Schritten gelungen. Auch wenn es von Regierung und Koalition reichlich weichgespült wurde – es gibt erste Gemeinschaftsschulen, gut so! Jetzt geht es darum, das weiterzuentwickeln – es bleibt mein wichtigstes Projekt.“
Heute werden in Sachsen-Anhalt 140 000 Kinder in 1 800 Einrichtungen betreut. Viele Erzieher wurden neu eingestellt. Damit stiegen auch die Kosten enorm. 2012 wurden für die Kinderbetreuung noch 184 Millionen Euro ausgegeben. 2016 sollen es 275 Millionen Euro werden. Ein Plus von fast 50 Prozent in vier Jahren.
EU und Bund entscheiden mehr
Ein Beispiel, das zeigt, wie viel viel die 105 Abgeordneten im Landtag verändern können. Zusammen mit der Regierung von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sind sie es, die man meint, wenn man von Landespolitik spricht. Sie wurden im März 2011 gewählt. Ein Drittel sind Frauen, zwei Drittel Männer. Es gibt vier Fraktionen. Die größte ist die der CDU mit 42 Parlamentariern. 28 gehören zur Partei die Linke, 26 sind SPD-Mitglied und neun bei den Grünen.
Sie zusammen beschließen Gesetze, die wie das Kifög anschließend in ganz Sachsen-Anhalt gelten. Allerdings haben sie längst nicht auf allen politischen Feldern so großen Handlungsspielraum.
Zuletzt formulierte das Wolfgang Böhmer sehr prägnant: „Der Landtag debattiert oft über Probleme, die er gar nicht entscheiden kann“, sagte der ehemalige CDU-Ministerpräsident Ende Januar in einem Interview. Damit verwies er darauf, dass immer mehr Entscheidungen auf Bundes- oder Europa-Ebene getroffen werden. Etwa, wenn es darum geht, wie viel Milch ein Bauer in Sachsen-Anhalt verkaufen darf. Das regelt nämlich die EU. Oder beim Mindestlohn - über den entscheidet der Bund. Böhmers ernüchterndes Fazit lautet deswegen: „Für die Länder bleibt wenig übrig“. Doch bedeutet das auch, dass Landespolitik keine Bedeutung mehr hat?
„Nein“, sagt Wolfgang Renzsch. Der Politikwissenschaftler aus Magdeburg hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Föderalismus befasst, also der Aufteilung der Kompetenzen auf Bund und Länder. Er hebt zum einen eine besondere Funktion der Landespolitik hervor. „Die Abgeordneten sind der direkte Draht der Bevölkerung zur Politik“, sagt Renzsch. Diese Nähe könne ein allein aus Berlin gesteuerter Staat nie herstellen. Gleichwohl sieht der Uni-Professor aber eine klare Tendenz zur Zentralisierung. „Die Länder verabschieden immer weniger Gesetze und im Gegenzug übernimmt der Bund immer mehr Aufgaben.“
Gut wird das in der Hochschulpolitik sichtbar. Bei der Föderalismusreform 2006 wurde dieser Bereich fast komplett in die Hände der Länder gelegt. Der Bund war durch das sogenannte Kooperationsverbot sogar am Einfluss gehindert. Allerdings wünschten sich vor allem die Länder wieder mehr Zusammenarbeit. Der Grund: ihre Finanznot. „Das Geld vom Bund ist oft wichtiger als der eigene Einfluss“, betont Politik-Professor Renzsch. Bei den Hochschulen führte das schließlich zur Aufhebung des Kooperationsverbots im vergangenen Jahr.
Doch Machtabgabe ist nicht gleichbedeutend mit Ohnmacht. „Die Länder haben viel Spielraum in der Umsetzung von Bundesgesetzen vor Ort“, sagt Renzsch. Wie beispielsweise die Asylgesetze ausgestaltet werden, sei zum großen Teil landespolitisches Terrain. Zudem gibt es Gebiete, die fest in der Hand von Landtag und Regierung sind. Neben der Kinderbetreuung etwa die Schulpolitik, die Organisation der Polizei oder auch die Förderung kultureller Institutionen. Dort haben sie viel und mitunter sogar alles zu sagen.
150 Gesetze und 536 Anträge
„Landespolitik kann mehr entscheiden, als man vielleicht gemeinhin denkt“, sagt Politikwissenschaftler Renzsch. Zu dieser Behauptung gibt es auch nüchterne Belege. Etwa eine Statistik, die die CDU über die Arbeit des Parlaments führt. Es ist sozusagen der parlamentarische Fleißnachweis für die vergangenen fünf Jahre. Den Zahlen nach haben die Fraktionen zusammen im Landtag 150 Gesetzesentwürfe eingebracht, 536 Anträge gestellt und 2 031 Kleine Anfragen formuliert und beantwortet bekommen.
Teil zwei der Serie lesen Sie am kommenden Sonnabend: „Ich bin doch nicht blöd und geh’ wählen, weil Politiker immer alles versprechen und anschließend nichts halten.“ (mz)