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MZ-Serie: 35 Jahre nach 1989 Vor 35 Jahren - Ungarn bohrt das erste Loch in den Eisernen Vorhang

Vor 35 Jahren brodelt es in der DDR. Eine Serie schaut zurück.

Von Steffen Könau 29.06.2024, 11:00
Nach den ersten Nachrichten von der ungarischen Grenze setzt ein unaufhaltsamer Reisestrom von DDR-Bürgern nach Ungarn ein.
Nach den ersten Nachrichten von der ungarischen Grenze setzt ein unaufhaltsamer Reisestrom von DDR-Bürgern nach Ungarn ein. Foto: DPA

Budapest/MZ. - Es sind durchweg schlechte Nachrichten, die die DDR-Medien ihren Lesern im Frühsommer vor 35 Jahren aus dem befreundeten Ungarn übermitteln müssen. „Die Zahl der Arbeitslosen ist auf 130.000 gestiegen“, heißt es da über das Bruderland, und „trotz aller Bemühungen der Ausschüsse zu Bekämpfung der Wirtschaftskrise“ seien Waren des täglichen Bedarfs schon wieder um 15 Prozent teurer geworden. Die Botschaft an die DDR-Bürger ist klar: Ungarn, das im Westen als „bunteste Baracke des Sozialismus“ verspottete Lieblingsurlaubsland der Ostdeutschen, hat sich mit seiner Abwendung von der sozialistischen Planwirtschaft auf gefährliches Terrain begeben.

Budapest will sparen

Dass die Regierung in Budapest den antikommunistischen Radiosendern „Radio Free Europe“ und „Radio Liberty“ eine Lizenz erteilt hat, passt ins Bild, das die DDR-Führung malt. Seit dem Rücktritt des von 1956 an regierenden Parteichefs János Kádár im Mai 1988 hatten sich die Liberalisierungsbemühungen in Ungarn beschleunigt, seit Mai schon bauen ungarische Grenzsoldaten Sicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich ab. Das aber lehnt die DDR ab. Die SED-Führung weiß: Jede Lücke im Eisernen Vorhang ist eine zu viel.

Dabei ist es von Budapest aus gesehen nur eine pragmatische Entscheidung. Eine Erneuerung der Zäune hätte 200 Millionen Dollar gekostet, der Abriss ist mit 3,5 Millionen Dollar deutlich billiger. Weil die meisten Ungarn ohnehin Pässe besitzen und in den Westen reisen können, sind die Zäune und Signalanlagen aus ungarischer Sicht vollkommen sinnlos geworden.

Ungarn vertritt seinen neuen Kurs offensiv. Am 27.6.1989 treffen sich Österreichs Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn in der Nähe des Neusiedler Sees an der Grenze, um demonstrativ und vor laufenden Kameras ein Loch in den Stacheldrahtzaun zu schneiden. An der Stelle, an der heute ein schmuckloser Granitblock als Mahnmal steht, öffnet sich der 12.500 Kilometer lange Eiserne Vorhang zum ersten Mal offiziell.

Große Sorge, aber kein Plan

DDR-Zeitungsleser und Zuschauer der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ erfahren davon freilich nichts. Joachim Herrmann, der für Agitation und Propaganda zuständige ZK- Sekretär, warnt stattdessen raunend vor „Kräften“, die „unter der Fahne der Erneuerung“ in Wirklichkeit „die Beseitigung des Sozialismus“ anstrebten. Die Entwicklung in Ungarn sehe die SED-Führung mit „großer Sorge“, sagt Herrmann, dem so wenig wie dem Rest des Politbüros klar ist, welche Überlegungen die vom Westfernsehen ausgestrahlten Bilder vom Loch im Zaun bei denen auslösen, die auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik warten.

Es ist Sommer. Nach Ungarn reisen dürfen DDR-Bürger ohne Antrag, ohne Pass. Der Personalausweis reicht. Obwohl die DDR-Behörden im ersten Halbjahr fast 40.000 Ausreiseantragsteller haben ziehen lassen, erscheint nun einer ungleich größeren Zahl die Gelegenheit günstig wie nie. Der Zaun ist weg. Die Ungarn werden auch nicht mehr schießen. Überall im Land werden nun Landkarten herausgekramt und Reisepläne geschmiedet.