Völkerschlacht Völkerschlacht: Die vergessene Schlacht von Halle
Halle/MZ - Als es Tag wird über Halle an diesem 27. April vor genau 200 Jahren, klappert überall Werkzeug, Kanonenräder ächzen und Befehle werden gebrüllt. Die Stadt an der Saale, besetzt von preußischen und russischen Truppen unter Generalleutnant Friedrich von Kleist, bereitet sich auf einen Angriff der Franzosen vor, die aus Richtung Eisleben heranziehen. Brücken werden mit Pech bestrichen, Haubitzen verteilt. Schicksalsstunden der Stadt, auf die später am Tag ein Trommelfeuer aus französischen Kanonen niedergehen wird. „176 Granaten schlugen ein“, beschreibt Manfred Drobny, der die blutigen Wochen im Frühling des Jahres 1813 erforscht hat, das mit der Völkerschlacht im Oktober eine Zeitenwende für den ganzen Kontinent bringen wird.
Schuld daran ist Johann Christian Reil. Drobny, schon mit 14 Jahren begeisterter Hobbyhistoriker und heute Lehrer an der Reilschule in Halle, stieß bei Forschungen zum Namensgeber seiner Schule auf Hinweise darauf, dass Halles berühmtester Mediziner in den Befreiungskriegen auf Seiten der Preußen als Inspekteur für die Lazarette arbeitete - auch in Halle. „Als ich mehr wissen wollte, geriet ich mitten in die dramatischen Ereignisse vom April 1813.“
Damals gehört Halle zum Königreich Westphalen, auf dessen Thron Jerome Bonaparte sitzt, Napoleons jüngster Bruder. Der französische Kaiser selbst hat auf seinem Russland-Feldzug gerade eine schreckliche Niederlage einstecken müssen, ist aber nach einem hastigen Rückzug schon wieder mit neuen Truppen aus Frankreich auf dem Weg nach Mitteldeutschland. Ihm entgegen ziehen Russen und die seit März mit ihnen verbündeten Preußen. Halle, mit 14 000 Einwohner beileibe keine Weltstadt, ist strategisch wichtig, weil hier Brücken über die Saale führen, die jede der beiden Seiten beherrschen möchte. Erst Ende März hatten die Franzosen Halle verlassen, am 3. April reiten die ersten russischen Ulanen ein. Als am 19. April 200 preußische Jäger erscheinen, sind sie „die ersten preußischen Soldaten, die sich seit 1806 nach Halle wagen“, schildert Manfred Drobny. Ihnen folgten in den Tagen danach von Kleists 3 000 Mann, die von den Hallensern mit „ungetheiltem Jubel“ empfangen werden, wie es in den „Berlinischen Nachrichten“ hieß.
Unheil aus Richtung Eisleben
Doch es droht Unheil. Aus Richtung Eisleben naht Napoleons 31. Division unter General Lauriston. Hektisch verstärken Einwohner und Soldaten die Verteidigungsanlagen der Stadt und verteilen ihre wenigen Kanonen. Die Franzosen bauen ihre überlegene Artillerie auf der anderen Seite der Saale auf. Am Abend beginnt das Bombardement: Häuser gehen in Flammen auf, ein russischer Soldat wird auf dem Marktplatz direkt von einer Granate getroffen und getötet. „Gleichzeitig stürmten die französischen Truppen die Hohe Brücke und sie versuchten auch, in Wörmlitz über eine Furt ans andere Ufer zu kommen.“ Vergebens. In Wörmlitz halten zwei russische Bataillone stand. An der Hohen Brücke, die etwa dort steht, wo heute das Multimediazentrum aufragt, verteidigt sich das Regiment Colberg, das sechs Jahre zuvor schon die Festung Kolberg gegen Napoleon gehalten hat. Napoleons General Nicolas-Joseph Maison befiehlt am Abend den Rückzug. Die erste Schlacht ist für die Preußen gewonnen - doch nachdem es anderen französischen Truppen bei Merseburg gelingt, die Saale zu überwinden, ist Kleists Stellung in Halle nicht zu halten.
„Zum Entsetzen der Einwohner verließen die Verbündeten die Stadt“, berichtet Manfred Drobny, der in den letzten Monaten zahllose Heeresberichte, Autobiografien und alte Zeitungen gelesen hat. Befehl ist Befehl. „Still und ruhig rückten die Franzosen ein“, schreibt der Augenzeuge Christian Adolf Buhle wenig später über die dramatischen Ereignisse.
Halle ist zum Spielball der Weltmächte geworden, nun wieder besetzt von 5 000 Franzosen. Auch die müssen von der Bevölkerung verköstigt werden. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet wäre das, als müsste Halle ein Heer von 70 000 Soldaten durchfüttern. „Es ist unvorstellbar, wie das gelungen ist“, fragt sich Drobny, „denn so viele Vorräte gab es ja in der Stadt nicht.“ Es ist an Bürgermeister Ludwig Streiber, einem studierten Mediziner, die Versorgung sicherzustellen und den wechselnden Machthabern stets die Loyalität der Hallenser zu versichern, um mögliche Racheakte zu verhindern.
Kampf Mann gegen Mann
Und nie ist klar, wer morgen regieren wird. Denn nur zwei Tage nach der Rückkehr der Franzosen sind die Preußen wieder da. Diesmal marschiert General Wilhelm von Bülow aus Richtung Oppin auf die Stadt. Um sechs Uhr morgens beginnt der Angriff, der Lauristons Garnison völlig überrascht. Erst an den Stadttoren - heute etwa der Bereich zwischen Steintor, Leipziger Turm und Kirchtor - leisten die Besatzer Widerstand. „So stark, dass Bülow gegen acht Uhr überlegt, ob er abbrechen lässt“, wie Drobny sagt. Es sind dann die Taten einiger Männer, die das Schlachtglück wenden. Zuerst stellt der Major von Holtzendorff fest, dass am Leipziger Turm ein Schwachpunkt der Verteidigung liegen könnte. „Die Franzosen standen hier vor dem Tor, nicht dahinter.“ Gleichzeitig startet Capitain von Monsterberg ein Kommandounternehmen: In Saale-Kähnen rudern seine Männer in den Rücken der Verteidiger. Und schließlich ist es Major Siegfried von Uttenhoven, der seine Leute „dem Feinde mit dem Bajonett auf den Leib gehen lässt“, wie Friedrich Richter in der großen „Geschichte des deutschen Freiheitskrieges“ notieren wird.
Es ist ein Kampf Mann gegen Mann, der in den Straßen tobt. In einem „blutigen Handgemenge“ (Richter) treiben die Preußen die Franzosen zum Markt. Kanonen halten dazwischen, Reiter steigen ab und fechten zu Fuß. Der Unteroffizier Sachweh, so heißt es, „springt auf den feindlichen Anführer los und fasst ihn am Halse fest“.
Auf diese Weise gelingt es in nur drei Stunden, die Stadt „vom Feinde zu reinigen“. Hunderte Tote und Verletzte bleiben zurück, als die Franzosen Richtung Holleben flüchten. Die Preußen aber folgen ihnen wenig später - weil Napoleon in der Schlacht bei Großgörschen die Oberhand behalten hat, muss Bülow Hale am 3. Mai erneut aufgeben. Die Stadt wird nun wieder französisch. Jerome Bonaparte rückt im Juni ein und tadelt die Hallenser als Verräter. Am 13. Juli folgt ihm Napoleon. Er fordert vier Millionen Franken Strafe und droht für den Fall der Nichtzahlung, die Stadt „an allen vier Ecken anzuzünden“.
Zum Glück für die Einwohner fehlt ihm dann die Zeit, das Vorhaben umzusetzen. Nach der Niederlage in der Völkerschlacht im Oktober ziehen die Franzosen endgültig ab. Halle ist frei. „Für die Menschen hier aber begann das Elend jetzt erst“, sagt Manfred Drobny: Fast ein Drittel der Bevölkerung stirbt bis zum nächsten Frühjahr, zumeist an Typhus. Unter denn Opfern ist auch Johann Christian Reil. Die Stadt ist ausgeblutet, in Teilen zerstört, arm und hungrig. Auf den Friedhöfen ist kein Platz mehr, man begräbt die toten Franzosen dort, wo Platz ist - etwa unter einem Pfad, der seitdem „Franzosenweg“ heißt. Um sich zu erinnern, bauen die Überlebenden Denkmale für die Toten. Im Stadtpark, aber auch in Vororten und Parks stehen sie heute noch, verwittert und überwuchert. „Drei Generationen ist das erst her“, sagt Manfred Drobny, „und doch ist es beinahe schon vergessen.“