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Verzweifelte Suche Verzweifelte Suche: Verschwundene Babys in der DDR keine Einzelfälle

Von Katharina Thormann 17.09.2019, 10:33
Nadine Varnholt beschäftigt das Schicksal ihrer 1980 verschwundenen Schwester auch heute noch. 
Nadine Varnholt beschäftigt das Schicksal ihrer 1980 verschwundenen Schwester auch heute noch.  Archiv/Engelbert Pülicher

Bernburg - Wo ist mein Baby? Eine Frage, die immer mehr Mütter beschäftigt, die ihre Kinder in der DDR zur Welt gebracht haben, und die kurz nach der Geburt plötzlich und unerwartet gestorben sein sollen. Aber sind sie es tatsächlich?

Eine Sache, die auch Familie Böge aus Dessau quält - seit knapp 40 Jahren. Lange hatte die Familie die Vorstellung verdrängt, dass damals, im Februar 1980 im Kreiskrankenhaus in Bernburg, etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. Doch je mehr Nadine Varnholt, die Schwester des damals verschwundenen Babys, bei den Ämtern nach Antworten sucht, desto größer werden die Zweifel.

Wo ist meine Schwester? Viele Ungereimtheiten kommen ans Licht:

Zu viele Ungereimtheiten haben sich aufgetan. Als Frühchen kam ihre Schwester Nancy Böge am 15. Februar 1980 in der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt - drei Tage später wurde der Mutter der Tod ihrer Tochter mitgeteilt.

Sehen durfte sie das Baby nicht noch mal. Stattdessen wurde ihr, die unter Beruhigungsmitteln stand, ein Zettel ans Bett gereicht - angeblich für die Beisetzung. Sie unterschrieb.

Das Kuriose: Auf dem städtischen Friedhof in Bernburg ist anschließend aber nie eine Nancy Böge angekommen und beigesetzt worden, auch nicht als Grabbeigabe eines anderen Verstorbenen. So war es in der DDR damals üblich.

Nirgends taucht der Name in den Friedhofsbüchern der Saalestadt auf. Auch nicht in denen der Stadt Dessau, wo die junge Familie in dieser Zeit bereits eine Wohnung bezogen hatte. „Wir haben keinen Ort, kein Grab zum Trauern“, sagt Nadine Varnholt.

Unterlagen aus dem Krankenhaus-Archiv weisen Fehler auf

Aber was passierte mit Nancy? Aus der Krankenhausakte, die ihre Schwester nun überraschenderweise weit nach der abgelaufenen 30-Jahres-Frist aus dem Archiv des Ameos Klinikums Bernburg als Nachfolgeklinik erhalten hat, geht das nicht hervor. Stattdessen endet die Dokumentation des Inkubators, in dem das Baby gelegen haben soll, etliche Stunden vor dem angegebenen Tod. Nur ein Versäumnis? Nicht für die Familie.

Auch die beglaubigte Abschrift der Geburtsurkunde weist Fehler auf. Demnach soll Nancy Böge bereits einen Monat früher zur Welt gekommen sein. Ihre Schwester Nadine Varnholt glaubt auch in diesem Fall nicht nur an einen Schreibfehler.

Stattdessen werden ihre Ängste immer größer, dass etwas Schlimmes mit ihrer Schwester passiert sein könnte. Wurde ihr Körper, wenn sie tatsächlich gestorben ist, vielleicht unerlaubt zu Forschungszwecken genutzt? Oder wurde der Säuglingstod nur vorgetäuscht, und sie kam in eine Adoptivfamilie?

Mehrfach täglich klingelt das Telefon der „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“

Solche Vermutungen hört Andreas Laake immer öfter. Mehrfach täglich klingelt das Telefon des Vorsitzenden der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR oder das seines siebenköpfigen Teams, das sich im sächsischen Naunhof niedergelassen hat. Von dort aus kämpft man nun schon seit Jahren darum, dass dieses Unrecht endlich aufgearbeitet wird.

„Tausende Familien sind betroffen, und sie haben berechtigte Fragen. Denn es gibt immer wieder große Widersprüche in der Ablaufkette bei der Geburt der Kinder“, sagt Laake. Da fehlten immer wieder Überführungsprotokolle oder der Vermerk, wo die verstorbenen Kinder bestattet sind oder gar an ihnen geforscht wurde. „Die Familien wollen endlich die Wahrheit hören“, sagt Laake.

Tausende Familien sind betroffen. Zur Aufklärung läuft derzeit eine Petition

Und die sollen sie bekommen. Dafür läuft derzeit eine Petition, über die noch in diesem Jahr im Bundestag in Berlin abgestimmt werden soll. Darin enthalten ist unter anderem eine Aufklärungspflicht für Adoptiveltern, sobald die Kinder 16 Jahre alt werden, sowie die Einrichtung einer DNA-Datenbank, bei der sich Betroffene anonym registrieren lassen können.

Das Ziel: dort ihre Angehörigen zu finden. Außerdem fordern die Mitglieder der Interessengemeinschaft die Sicherung aller Akten, um doch noch vom Verbleib der verschwundenen Kinder der DDR zu erfahren.

Denn was bisher vielen vielleicht nicht bekannt war: Auch nach der 30-jährigen Aufbewahrungsfrist dürften Unterlagen wie die Krankenhausakten nicht einfach in den Kliniken geschreddert werden. „Zuerst müssen sie dem Landesarchiv angeboten werden. Wenn sie dort nicht angenommen werden, muss es Vernichtungsprotokolle geben“, sagt Laake.

Deshalb hat Laake Hoffnung, dass Fälle aufgearbeitet werden können:

Und genau deshalb ist er guter Dinge, dass einige Kliniken doch noch Unterlagen haben und Licht ins Dunkel bringen können, was mit den spurlos verschwundenen Babys passiert ist. „Es ist ein Unrecht, das aufgearbeitet werden muss, aber uns läuft die Zeit weg“, erklärt Laake.

Denn inzwischen sind viele betroffene Eltern im Rentenalter. Immerhin wurden erste Fälle von angeblichen Säuglingstoden bereits in den 60er Jahren bekannt. Ungewöhnlich oft berichten Betroffene aber von Fällen in den 80ern.

So meldete sich nach den ersten beiden Berichten über das Schicksal der Familie Böge auch eine Familie aus der Nähe von Bad Lauchstädt (Saalekreis). Der Mutter wurde auch kurz nach der Geburt der Tod einer der beiden eineiigen Zwillingstöchter mitgeteilt.

Nach MZ-Berichterstattung melden sich weitere Familien

Doch auch in diesem Fall gibt es Hinweise, dass das Baby noch leben könnte. Eine Spur führt nach Österreich. Das ergaben die ersten Recherchen aus der Abschrift der Geburtsanzeige, auf der mit Bleistift eine Ziffernfolge vermerkt ist. Womöglich eine Postleitzahl?

Nicht mehr an den Tod ihrer Tochter glauben möchte auch eine Familie aus Sangerhausen (Mansfeld-Südharz). Sie hat zwar ein Grab, doch vor der Beisetzung hatten die Eltern noch einen Blick auf das tote Baby im Sarg werfen können. Und schon damals war sich die Mutter sicher: „Das ist nicht mein Kind!“ Und deshalb will die Familie jetzt ebenfalls auf Spurensuche gehen.

DDR-Baby-Schicksale decken sich immer wieder im Ablauf

Fest steht bisher nur, dass sich die Schicksale immer wieder im Ablauf decken. „Den Müttern wurde der Tod mitgeteilt, und dann wurden sie anschließend mit dem Satz beruhigt: Sie sind doch noch jung und können noch Kinder bekommen“, sagt Laake. Doch es könne nicht sein, dass die Babys in dem Tauschsystem der DDR ebenfalls als Ware verwendet wurden.

Darum ist der Kampf um die Aufklärung für ihn eine Herzensangelegenheit, auch wenn er seinen Sohn bereits nach jahrelanger Suche gefunden hat. Denn alle betroffenen Familien haben wie Nadine Varnholt eins gemeinsam: „Wir wollen die Wahrheit wissen, um endlich abschließen zu können.“ (mz)

Betroffene Familien können sich jederzeit an die Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR wenden unter: www.iggkddr.de 

Verschwundene Babys in der DDR sind keine Einzelfälle. Tausende Familien sind betroffen. Die Schicksale decken sich in den Abläufen. Um Licht ins Dunkel zu bringen, läuft derzeit eine Petition zur Aufklärung.
Verschwundene Babys in der DDR sind keine Einzelfälle. Tausende Familien sind betroffen. Die Schicksale decken sich in den Abläufen. Um Licht ins Dunkel zu bringen, läuft derzeit eine Petition zur Aufklärung.
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