Vermisst Vermisst: Letzter Ausflug nach Nirgendwo
Thale/MZ. - Der 21. September 2003 ist ein sonniger Herbsttag. Der Kirchenchor Hahnenklee will das schöne Wetter nutzen - und fährt in den Ostharz. Letzte Station der Tagestour ist am späten Nachmittag die Roßtrappe bei Thale (Landkreis Quedlinburg). Auf dem berühmten Aussichtsfelsen entsteht um 16.21 Uhr das letzte Foto von Georg Amtsberg.
Amtsberg steht am Geländer und fotografiert hinab ins Bodetal. Die ersten der Gruppe machen sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Auch Georg Amtsberg sollte dorthin zurückkehren. Ein Nachzügler kann sich später nicht erinnern, seinem Sangesbruder unterwegs begegnet zu sein. Niemanden ist an diesem Tag irgendetwas Merkwürdiges an dem 70-Jährigen aufgefallen. Amtsberg war das, was man einen rüstigen, unternehmungslustigen Rentner nennt. Gern draußen, drahtig, ein sportlich wirkender Typ.
Als er nicht wie abgesprochen am Auto erscheint, sucht die Gruppe nach ihm. Vergebens. Um 20 Uhr wird die Polizei verständigt, wenig später rückt die Bergwacht aus. Es ist schon dunkel, als die Retter eintreffen, das schränkt die Suche auf dem schmalen Plateau ein. "In die Felsen konnten wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr steigen", erzählt Bergwacht-Chef Jens Kowalewski.
"Vielleicht ist er hinter einen Felsbrocken gestürzt", mutmaßt Hans-Joachim Weddeler. Der Hauptkommissar der Halberstädter Polizei hat den Vermisstenfall übernommen. Hinter einem Felsblock, das könnte schon sein, meint auch Kowalewski und erinnert an einen Selbstmörder zu DDR-Zeiten. Der Mann wurde erst Monate später gefunden. "Doch das war im Winter, der Körper war eingeschneit."
In den nächsten Tagen fahnden hunderte Polizisten und zivile Retter mit dutzenden Hunden nach dem Vermissten, immer wieder fliegen Hubschrauber. Amtsberg bleibt vermisst. Fünf Tage nach seinem Verschwinden wird die Suche eingestellt. Dabei war kurzzeitig Hoffnung aufgeflammt: Eine Frau glaubt, den Rentner im wenige Kilometer entfernten Altenbrak gesehen zu haben. Von der Roßtrappe fährt ein Bus dort hin. "Doch warum sollte er den Bus nehmen, wenn die Autos auf dem Parkplatz stehen", fragt Weddeler.
Wo steckt Georg Amtsberg? Vom Weg abkommen ist angesichts der Geländer, die quasi den gesamten Weg auf dem Felsplateau flankieren, nahezu unmöglich. "Er müsste schon drüber geklettert sein", sagt der Bergwacht-Chef. Selbstmord? "Davon gehe ich nicht aus", so Kripomann Weddeler. Es gibt keine Krankheit, die Familie ist intakt, Amtsberg lebte mit seiner Frau und einer Tochter in einem villenähnlichen Anwesen in Hahnenklee, das die Familie als Pension betreibt. Auch ein Verbrechen schließt die Polizei aus: Amtsberg war wandern, nicht auf dem Weg zur Bank. Er hatte keine große Geldsummen dabei und auch keine wertvollen Gegenstände. Sieht man mal von seiner Kamera ab, einer Rollei Prego für rund 130 Euro. Aber vielleicht war es gerade diese Kleinbildkamera, die Amtsberg zum Verhängnis wurde. Vielleicht ist er für einen Schnappschuss über ein Geländer gestiegen. Vielleicht kam es "zu einem plötzlichen Versagen der Organe", wie Weddeler nicht ausschließen will. Vielleicht stürzte Amtsberg dann in die Tiefe.
Doch warum wurde die Leiche nicht bei einer erneuten Suche im November gefunden, als ein Hubschrauber noch einmal nach dem Laubfall über dem Bodetal kreiste? Vielleicht gibt es keine Leiche mehr, meint Jens Kowalewski. "Weil Tiere sie verschleppt haben." Doch da wäre noch das farbenfrohe Hemd Amtsbergs. Kowalewski zuckt mit den Schultern. "Wirklich merkwürdig", findet er. Und auch Kripomann Weddeler spricht von einer "ungewöhnlichen Sache."
Amtsberg ist seit einem Jahr verschwunden - zivilrechtlich könnten ihn seine Angehörigen für tot erklären lassen. Doch ein Grab wird es vorerst nicht geben. "Man muss doch jemanden haben für ein Grab", sagt Tochter Babette. Die Vermisstenakte Amtsberg bleibt geöffnet.