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Tischtennis Tischtennis: Sechs Stunden täglich schmettern und schneiden

Von Julius Lukas 23.09.2012, 18:29

Eilenburg/MZ. - Die Wohnungstür öffnet sich nicht. Juan dreht den Schlüssel nach links und drückt. Nichts passiert. In die entgegengesetzte Richtung. Nichts passiert. Juan schaut hilflos und wird nervös. Er ist 15 Jahre alt, ein Junge mit schwarzen Haaren, dunklen Augen, braunem Teint.

Es dauert noch eine halbe Minute, in der Juan probiert, dreht und drückt. Dann springt die Tür doch auf. Dahinter liegt ein trister Flur mit braun-gemustertem Linoleum-Boden. Die Wände der Zimmer sind kahl und mit verbrauchten Sperrholz-Möbeln eingerichtet. In einer Ecke der Küche, hinter einigen Müllbeuteln, steht ein geschmückter Weihnachtsbaum aus Plastik.

Juan Lamadrid Barazza ist Chilene. Seit dem 8. August lebt er in Deutschland. In seiner Wohnung sind noch zwei Bolivianer untergebracht. Sie liegt in Eilenburg Ost (Sachsen), in einem Sechsgeschosser am Rande einer 80er-Jahre-Plattenbausiedlung. Juans einzige Aufgabe 12 000 Kilometer von seiner Heimat entfernt: Tischtennis spielen.

Nur die Turnhalle blieb übrig

Nachdem er die Tür geöffnet hat, geht der 15-Jährige in sein Zimmer. Ein Poster ist der einzige Schmuck an den Wänden. Es zeigt Timo Boll, Deutschlands besten Tischtennisspieler. Er ist Juans Vorbild. So gut wie er möchte der Chilene auch werden. In Eilenburg Ost will er das lernen.

Juan und seine Mitbewohner trainieren mit 25 Jugendlichen aus aller Welt in der Tischtennis-Akademie Eilenburg. Sechs Stunden pro Tag stehen sie dort an der Platte, schmettern und parieren Bälle. Wenn sie keine Turniere haben, sind sie auch am Wochenende damit beschäftigt. Am Vormittag hatte Juan bereits Training. Die Tischtennis-Akademie liegt nur fünf Minuten von seiner Plattenbau-Wohnung entfernt, in einer Turnhalle am Ende der Straße. Rund um das Gebäude ist Brachland. Bis 2008 standen hier eine Schule, ein Wohnheim und ein Kindergarten. Dann wurde alles abgerissen. Übrig blieben nur zwei Garagen und die Turnhalle.

Erhalten hat sie Alberto J. Ammann. Er ist Gründer und Leiter der Tischtennis-Akademie und sitzt während des Trainings am Rand der Turnhalle. Zum Aufwärmen laufen die Jugendlichen Runden. Ammann beobachtet sie dabei. Auch in der Turnhalle trägt er eine Anzugshose und ein weißes Hemd mit Krawatte. Dass er etwas mit Tischtennis zu tun hat, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Der 52-Jährige ist eher klein und wiegt gut 120 Kilo. Aber Ammann gilt als Fachmann, als ein Schwergewicht in der Tischtenniswelt. Seit 33 Jahren ist er Trainer. Sieben Nationalmannschaften hat er in dieser Zeit betreut. Gerade ist er für die chilenische Auswahl im Einsatz. Dort hat er Juan entdeckt.

"Run, run, run", ruft Ammann seinen laufenden Schülern zu und gleich darauf ebenso laut: "Rapido, rapido, rapido." Die Jugendlichen beginnen zu sprinten. Zweisprachigkeit ist wichtig, weil einige der Spieler nur Englisch und andere nur Spanisch verstehen. Deutsch spricht keiner der 28 Schüler, die zur Zeit in der Akademie trainieren. Viele sind Osteuropäer, aber auch ein Australier und ein Ire sind darunter. Die größte Fraktion kommt aus Lateinamerika, was auch mit Ammanns Wurzeln zu tun hat. Er wurde in Lima, der Hauptstadt von Peru, geboren. Obwohl er schon mit zehn Jahren nach Österreich in die Heimat seines Vaters zog, hat er noch immer gute Kontakte zum Kontinent.

"Südamerika ist unterschätzt", meint Ammann. Die Spieler seien enorm talentiert, allerdings fehle es ihnen an Disziplin. Juan sei das beste Beispiel. "In Chile galt er als unerziehbar", meint der Akademie-Leiter. "Hier habe ich ihn im Griff." Während Ammann spricht, wird es in der Halle laut. Die Schüler unterhalten sich. Der 52-Jährige schreit los. Erst auf Englisch, dann auf Spanisch. Sofort herrscht wieder Ruhe. "Ich bin manchmal wie ein Diktator. Aber mit 28 Jungs im Alter von 15 bis 22 Jahren hast du keine andere Chance."

Ammanns Konzept ist einzigartig in Europa und zudem erfolgreich. Über 1 000 nationale und internationale Titel haben die Spieler, die im Laufe der Jahre seine Akademie besucht haben, bereits gewonnen. Auch Bundesligaprofis trainieren in Eilenburg, weil sie nirgendwo sonst eine so große Vielfalt an Gegnern finden. Das lockte auch den sächsischen Verband an. "Wir lassen unsere Spieler in der Akademie trainieren und sind sehr zufrieden mit der Zusammenarbeit", heißt es aus der Geschäftsstelle. Auch Juan wurde von seinem Verband nach Eilenburg geschickt. Die Chilenen übernehmen sogar die eine Hälfte der Ausbildungsgebühr. Die andere bringt seine Familie auf.

"Mit 6 000 Euro für Leben und Akademie muss ein Spieler pro Jahr rechnen", sagt Alberto Ammann. Wie viel er davon bekommt, verrät er nicht. Allerdings arbeitet Ammann neben seiner Trainertätigkeit als Wirtschaftsberater. Nach der Wende kam er nach Ostdeutschland. Über das Tischtennisspielen gelangte er dann nach Eilenburg, wo er unter anderem einen Versandhandel betrieb, der allerdings 2010 in den Konkurs ging. "Um mich braucht sich niemand Gedanken machen", sagt der 52-Jährige. "Ich bin versorgt. Mit der Akademie werde ich aber nicht reich."

Für die Ausbildung der Jugendlichen opfert Alberto Ammann trotzdem viel Zeit. Er wolle Entwicklungsarbeit im Tischtennis leisten, sagt der 52-Jährige. Mit drei Trainern betreut er seine 28 Schüler aus aller Welt deswegen rund um die Uhr.

Für sie entsteht so in Eilenburg Ost ein Mikrokosmos, der von ihrer Plattenbauwohnung bis zur Turnhalle am Ende der Straße reicht. Für viele der jungen Spieler bleibt das Leben in Deutschland ungewohnt. Besonders die Südamerikaner kommen nur schwer mit dem Umfeld zurecht. Sie seien es gewohnt viel zu feiern, die Abende auf der Straße zu verbringen, erklärt Alberto Ammann. In Deutschland beschwerten sich die Nachbarn schon, wenn es in der Wohnung mal zu laut ist. "Das verstehen die Jungs nicht."

Drei Siege für Landsberg

Noch knapp elf Monate gehört auch Juan zum Mikrokosmos in Eilenburg Ost. Hier will er so gut werden wie Timo Boll. Und manchmal verlässt er dafür auch die kleine Welt aus Plattenbauwohnung, Turnhalle und der Straße dazwischen. Dann nämlich, wenn sein Verein spielt. Damit seine Schüler Einsatzpraxis sammeln, vermittelt Alberto Ammann sie an Tischtennisclubs. Juan spielt in Sachsen- Anhalt in der Oberliga beim SSV 90 Landsberg. Drei Spieltage gab es bisher. Bei allen war Juan dabei. Er hat kein einziges seiner Spiele verloren.