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Ströbeck am Harz Ströbeck am Harz: Dorfbewohner als lebende Schachfiguren

03.06.2013, 06:22
Das Lebendschach-Ensemble spielt auf dem "Platz am Schachspiel" in Ströbeck (Sachsen-Anhalt) Schach.
Das Lebendschach-Ensemble spielt auf dem "Platz am Schachspiel" in Ströbeck (Sachsen-Anhalt) Schach. ZB Lizenz

Ströbeck/dpa - 1,58 Meter reichen einfach nicht zur Dame. Nun steckt Janine Hofmann in der Springer-Uniform. Das ist ihr auch ganz recht. „Ich finde, das ist das schönste Kostüm“, sagt die 36-Jährige. Im cremefarbenen militärischen Outfit steht sie auf dem riesigen gepflasterten Schachbrett auf dem Marktplatz, der hier Platz am Schachspiel heißt. Sie lässt mit sich spielen. Hofmann ist eine von 32 Lebendschach-Figuren. Das Ensemble wurde vor 30 Jahren in der kleinen Gemeinde im Vorharz gegründet und führt eine Tradition fort, die es schon seit 325 Jahren gibt.

Ströbeck ist Deutschlands Schachdorf. Schach ist hier Unterrichtsfach, es gibt ein Schachmuseum, viele Schachfeste. Fast jeder Ströbecker beherrscht das Spiel der Könige. Viele haben das Ziel, Königin oder König im Lebendschach-Ensemble zu werden. Die Liebe zum Schachspiel wird in Ströbeck von Generation zu Generation weitergegeben. Dennoch plagt das Ensemble mit 6- bis über 60-jährigen Mitstreitern Nachwuchssorgen.

„Traditionell stehen Kinder auf dem Schachbrett“, sagt Sigrid Karasch, die Mutter von Janine Hofmann. Die heute 69-Jährige hat vor 30 Jahren das Ensemble gegründet, führte Lebendschach und Tanz rund um das Schachspiel zusammen. Zusammen haben sie die künstlerische Leitung. „Die haben damals Schlange gestanden, heute machen wir einen Kniefall“, bringt die pensionierte Geografielehrerin Karasch die Misere auf den Punkt. Die Probleme fingen an, als die Sekundarschule im Ort geschlossen wurde und die Kinder nach der Grundschule ins benachbarte Halberstadt pendeln mussten. Weil viele Kinder dann zu wenig Zeit hatten, mussten auch Erwachsene mit aufs Brett.

Die Geschichte des Lebendschachs soll bis ins Jahr 1688 zurückreichen. Damals lud ein Herzog zu höfischen Spielen ein und die schachkundigen Einwohner aus Ströbeck führten das eigentlich königliche Spiel auf. Die Trachten und Kostüme der lebenden Figuren wechselten im Lauf der Zeit immer wieder. Mal waren sie schwarz-weiß und eher schlicht, mal sehr bunt und opulent. Seit einigen Jahren tragen die lebenden Schachfiguren die Kostüme nach historischen Trachten um 1850.

Wenn das Ensemble mit sich spielen lässt, sitzen die Spieler auf Hochstühlen neben dem Schachbrett und sagen ihre Züge über ein Mikrofon an. Den Überblick zu behalten, ist aber nicht einfach. „Selbst gute Schachspieler, die das erste Mal spielen, verzweifeln“, sagt Karasch aus ihrer Erfahrung. Viele spielten das Spiel auf einem üblichen Schachbrett nach. Das mache auch der Präsident des Deutschen Schachbundes, Herbert Bastian, so. Er hat schon mehrere Partien des Lebendschachensembles gesehen, aber selbst noch nicht gespielt. Bastian sieht Lebendschach als Kulturgut mit reicher Tradition.

Schon zu DDR-Zeiten war das Lebendschach-Ensemble eine gefragte Gruppe, bekam die höchste Auszeichnung als „Ausgezeichnetes Volkskunstkollektiv der DDR“. In ihren Kostümen, die im Theater Halberstadt genäht wurden, fuhren sie quer durch die Republik, waren beispielsweise in Berlin und Karl-Marx-Stadt. Ein Foto von den Lutherfestspielen in Eisleben 1983 zeigt die kleine Janine als sechsjähriges Bauernmädchen ganz vorn. Wenn Janine Hofmann heute in ihrer Springer-Uniform auf dem Schachbrett steht, steht die nächste Generation vor ihr: ihr sechsjähriger Sohn.

Eine Frau, die zum Lebendschach-Ensemble in Ströbeck gehört, applaudiert bei einer Partie am «Platz am Schachspiels».
Eine Frau, die zum Lebendschach-Ensemble in Ströbeck gehört, applaudiert bei einer Partie am «Platz am Schachspiels».
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