Sommergespräch mit Wulf Gallert Sommergespräch mit Wulf Gallert: "Ich stehe auf der Sonnenseite"

Havelberg/MZ - Von Halle aus ist man schneller in Berlin als in Havelberg (Kreis Stendal). Die bekanntesten Kinder der Stadt mit etwa 6 700 Einwohnern an der Grenze zu Brandenburg sind die Sängerin Annett Louisan - und der Landtagsfraktionschef der Linken, Wulf Gallert. Im Gespräch mit MZ-Redakteur Kai Gauselmann erklärt der 51-jährige verheiratete Vater zweier Söhne, warum er die Schule nicht schwänzen konnte, keinen Riesenfernseher gewinnen darf und weshalb er als ein Kritiker der Wiedervereinigung trotzdem zu ihren größten Gewinnern gehört.
Herr Gallert, was machen wir hier am Ende Sachsen-Anhalts?
Gallert: Das ist eine Frage der Perspektive. Für mich ist Havelberg nicht das Ende, sondern der Anfang. Auch persönlich, hier komme ich her. In diesem Haus bin ich aufgewachsen. Von hier bin ich drei Minuten an die Havel gelaufen und konnte dort angeln. Und im Sommer sind wir Boot gefahren. Das ist eine wunderschöne Stadt. Weil sie so klein ist, hat man auch schnell ein stabiles soziales Netzwerk.
Klingt nach Kindheit in Bullerbü. Warum sind Sie weggegangen?
Gallert: Es wurde mir irgendwann zu klein. Ich war insofern kein typischer Kleinstädter, weil ich hin und wieder gerne etwas Anonymität habe. Die gab es für mich nicht: Meine Eltern waren beide Lehrer hier, auch an meiner Schule.
Haben Sie trotzdem die Kirschen aus Nachbars Garten umverteilt?
Gallert: Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.
Das ist doch taktische Amnesie.
Gallert: Nein. Ich stand als Lehrerkind in der Kleinstadt quasi permanent unter Kontrolle. Ich konnte ja nicht einmal die Schule schwänzen.
Klingt anstrengend.
Gallert: Das war es auch. Aber wie gesagt: Havelberg ist auch schön. Ich war auch keiner, der jeden Tag über die Stränge schlagen wollte. Als Lehrer bin ich ja auch wieder hergekommen.
Lehrer zu werden war originell - wo Ihre Eltern auch Lehrer waren.
Gallert: Eltern Lehrer, Bruder Lehrer - was soll man da machen?
Warum Wulf Gallert seine Eltern als typische DDR-Aufsteiger bezeichnet, lesen Sie auf Seite 2.
Es handelt sich wohl um eine Art erblicher Vorbelastung?
Gallert: Kann man so sagen. Wobei meine Eltern beide aus sehr einfachen Verhältnissen kamen. Mein Vater war Landarbeiterkind aus der Nähe von Wroclaw, der Vater meiner Mutter war im Reichsbahnausbesserungswerk. Meine Eltern waren typische DDR-Aufsteiger.
Also hat Ihre Familie grundsätzlich gute Erfahrungen mit der DDR gemacht?
Gallert: Ja. Das hat auch die Reflektion geprägt. Meine Eltern waren nicht unkritisch, vor allem gegenüber hauptamtlichen Funktionären. Sie hatten aber eine grundsätzliche Loyalität gegenüber der DDR, die auch durch ihre eigene Kritik nicht erschüttert wurde. Mein Vater war in der SED und Parteisekretär. Als ich zur Wende wieder hergekommen bin, nach dem Studium als Lehrer für Staatsbürgerkunde in Leipzig, wurde ich auch an meiner Schule Parteisekretär. Das wollte da keiner mehr machen.
Parteisekretär und Staatsbürgerkunde - das klingt sehr staatstragend. Als die Wende kam, haben Sie da gedacht: Warum machen die die Mauer kaputt?
Gallert: Wir waren als Familie auf jeden Fall systemtragend. Für uns war der Mauerfall aber logisch - und dennoch eine Erschütterung. Die rührte auch daher, dass viele Leute, die vorher die schärfsten Reden geschwungen und die Einsicht in die Notwendigkeit gepredigt haben, plötzlich schon immer dagegen waren. Das fand ich unanständig, dieser Opportunismus hat mich abgestoßen.
War das die Geburtsstunde des Oppositionsführers?
Gallert: Ja, die Renitenz kam mit der Wende. Dieser Opportunismus verlangte Opposition. Mit einigen Leuten, die die Wende vollbracht haben, konnte ich mich identifizieren - wie Hans-Jochen Tschiche (Gründungsmitglied Neues Forum; Anm. der Red.). Diese Leute hatten die Vorstellung eines dritten Weges. Damit war man aber schnell in der Opposition. Meine Biografie ist nicht untypisch: Ich war einer der größten Kritiker der Übernahme des westdeutschen Systems - und bin objektiv gesehen einer der größten Gewinner dieses Prozesses.
Klingt widersprüchlich.
Gallert: So ist Geschichte manchmal. 80 Prozent der Ostdeutschen haben nach der Wende den Beruf wechseln müssen oder haben die Stelle verloren. Aus meiner Seminargruppe aber hat heute nur ein Fünftel einen anderen Job. Die übrigen konnten in ihrem Beruf bleiben. Und Lehrer waren nicht die entscheidende Gruppe für die Wende.
Warten Sie auf die Konterrevolution oder sind Sie mittlerweile angekommen in der Bundesrepublik?
Gallert: Wir haben über eine Zeit gesprochen, die ist seit über 20 Jahren vorbei. Meine Identifikation mit diesem Staat hat sich während der Tolerierung in den 1990ern ergeben. Ein Beispiel: Ich habe da acht Landeshaushalte mitverhandelt. Da haben mir einige aus der eigenen Partei gesagt: Ist doch egal, wenn wir Schulden machen - das ist doch nicht unser Staat. Denen habe ich gesagt: Ihr könnt so denken - am Ende sind es aber immer noch unsere Schulden.
Warum Wulf Gallert zu Hause nicht gern von der Arbeit spricht, erfahren Sie auf Seite 3.
Identifizieren Sie sich jetzt mit der Bundesrepublik?
Gallert: Was ich jetzt bin, bin ich in diesem Staat geworden. Dadurch ist Identifikation gewachsen. Natürlich habe ich mich verändert. In einem Land, das heute so funktionieren würde wie die DDR, würde ich zum Oppositionellen oder verrückt werden. Ich weiß aber auch: Ich stehe als Mitglied des Landtages auf der Sonnenseite. Meine Aufgabe ist aber die Interessenvertretung derjenigen, die mit den Verhältnissen aus guten Gründen unzufrieden sind.
Können Sie eigentlich auch mal von der Politik abschalten? Sie twittern ja rund um die Uhr - spricht zu Hause keiner mit Ihnen?
Gallert (lacht): Manchmal wünsche ich mir, eher und schneller abschalten zu können. Doch, meine Frau spricht viel mit mir.
Ich ahne, was sie sagt: Leg das Smartphone weg!
Gallert: Auch mal. Sie erzählt aber viel, was sie auf der Arbeit erlebt. Bei mir ist es andersherum: Ich will zu Hause gar nicht von der Arbeit erzählen.
Finden Ihre beiden Söhne gut, dass Papa Politiker ist?
Gallert: Nicht immer. Wir waren neulich auf einem Dorffest, da wollte mein Ältester, dass wir bei einem Entenrennen mitmachen. Welche der 400 Enten gewinnt? Meine. Hauptpreis: Ein Fernseher mit Ein-Meter-Bildschirm. Aber ich kann nicht als Vorsitzender der Linken-Landtagsfraktion einen Riesenfernseher aus so einem Festzelt schleppen. Das fand mein kleiner Sohn blöd. Wir haben dann den zehnten Preis mitgenommen, einen Fußball. Das hat gereicht.
Müssen Sie denn rund um die Uhr als Politiker auch ein gutes Vorbild sein?
Gallert: Das ist schon so. Mit allem, was man tut, ist man eine öffentliche Person. Die Leute erkennen mich nicht immer, aber man muss immer damit rechnen. Deswegen mache ich gerne im Ausland Urlaub. Da ist es dann relativ anonym. Wobei mich auf Mallorca auch schon Leute begrüßt haben mit „Jawoll! Sachsen-Anhalt!“
