Schwerbehinderter Schwerbehinderter: Weg aus dem Heim erstritten
Zerbst/MZ. - Die Hand streckt sich automatisch zum Gruß vor. Doch die Geste bleibt unvollendet. Rainer Jastrow bemerkt die Unsicherheit sofort. "Sie wissen ja, ich bekomme den Arm nicht so weit hoch", sagt der Zerbster. Dann lässt der Gastgeber seinen elektrischen Rollstuhl auf dem Teppichboden eine elegante Kurve fahren. Ein gewohntes Manöver.
Rainer Jastrow leidet an progressiver Muskeldystrophie. Eine Krankheit, die nicht nur die Armmuskeln nahezu bewegungsunfähig macht. Will er trinken, muss ihm jemand die Tasse zum Mund führen. Unzählige weitere alltägliche Verrichtungen gibt es, zu denen er allein nicht mehr fähig ist. Doch der an den Rollstuhl gefesselte Mann hadert nicht mit seinem Schicksal. Er hat gekämpft und gewonnen.
Dessauer Verwaltungsrichter sprachen nach über zwei Jahren Gerichtsstreit Ende 2002 zu seinen Gunsten Recht: Seinem sehnlichsten Wunsch gemäß konnte er sich endlich eine eigene Wohnung nehmen. Der unterlegene Landkreis Anhalt-Zerbst wurde verpflichtet, die Kosten für die Pflegekräfte zu übernehmen, die Jastrow für ein eigenständiges Leben braucht. Stationäre Hilfe, das Leben im Heim, ist ihm nach Ansicht der Richter nicht zuzumuten.
Das entspricht, so Jürgen Hildebrand vom Behindertenverband Sachsen-Anhalt, der gesetzlichen Vorgabe, dass ambulante Betreuung der stationären vorzuziehen ist. Sie verschaffe die Chance auf eigenständiges Leben, auf mehr Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen. Hildebrand: "Eine andere Entscheidung wäre diskriminierend." Da dürfe auch nicht allein der Kostenfaktor ausschlaggebend sein.
Die Betreuung, die Rainer Jastrow rund um die Uhr benötigt, leisten nun von ihm selbst ausgewählte so genannter Assistenten (siehe Assistenz-Modell). Eine Fernsehsendung gab den Anstoß, einen Antrag auf Kostenübernahme beim Sozialamt zu stellen.
Als der abgelehnt wurde, widersprach Jastrow. Er glaubte an das ungewöhnliche Projekt. Da schockte ihn auch nicht die erneute Ablehnung. Er klagte. Es ging um viel. Das Assistenten-Modell kostet eine Stange Geld, in Jastrows Fall dem Landkreis Anhalt-Zerbst rund 7 000 Euro im Monat. Der Kreis ging zwar gegen das Urteil in Berufung, doch bis zur endgültigen Entscheidung ist er verpflichtet, die Kosten zu übernehmen. "Die sind dort böse auf mich und knirschen mit den Zähnen", glaubt Jastrow. Im Heim kostete die Pflege etwa 31 000 Euro im Jahr, von der der Kreis nur einen Teil zu übernehmen hatte.
Seit dem 1. April 2003 sind vier Assistenten im Zwei-Schicht-System ausschließlich für den Zerbster da. Mit Vertrag und sozialer Absicherung. Welch ein Unterschied zum Alten- und Pflegeheim, in das der damals 28-jährige Rainer Jastrow 1985 nach dem Tod der Mutter zog. "Das Heim war nur eine Unterbringung. Als mein Zuhause habe ich es niemals akzeptiert", sagt er. Unmöglich, bei schönem Wetter spontan einen Ausflug zu unternehmen. Solche Aktivitäten mussten bei 180 Heimbewohnern häufig Wochen zuvor geplant werden. Rainer Jastrow kannte die Antworten auf seine Anliegen stets schon vorher: Keine Zeit. Kein Personal. Kein Geld von der Pflegekasse.
Für ihn hat eine neue Phase begonnen. Und für Daniela Ludwig ebenfalls. Sie gehört zu den Assistentinnen, die sich um den Pflegebedürftigen kümmern. Als sie sich bei Jastrow um eine der Stellen bewarb, hatte sie keine Ahnung, was sie erwartete. Einkaufen, kochen, sauber machen ist die eine Seite der Medaille. Die andere, für die Körperhygiene eines zunächst wildfremden Mannes zu sorgen. Ludwig: "Das ist sicherlich nicht jedermanns Sache."
"In so einem Arbeitsverhältnis ist Vertrauen nötig. Wir müssen uns verstehen", bestätigt Jastrow. "Es wäre tödlich ohne Kommunikation." An der fehlte es ihm im Heim besonders. Als er in die eigenen vier Wände zog, kam er sich "beinahe wie ein Knastologe nach langer Haftzeit" vor. Heute genießt er seine neu gewonnene Bewegungsfreiheit. Er sitzt im Rolli. Und steht doch auf eigenen Füßen.