Handball Handball: Die zweite Chance für Landgraf
Aschersleben/Hildesheim/MZ - Es ist eine dieser Entwicklungen, die unvorhersehbar waren. Wer hat vor drei Jahren schon daran geglaubt, dass Tom Landgraf zum Handball-Jugendnationalspieler wird? Ein Spieler, dem von vielen Seiten das nötige Talent beschieden wurde, der aber zu bequem war. Der 2009 an die Sportschule in Magdeburg rekrutiert wurde und sich ein Jahr später eine folgenschwere Dummheit erlaubte: Rausschmiss! Alles vorbei. Dachten die meisten.
Es war ein Fehlverhalten, das bei anderen heranwachsenden Jugendlichen als „Ausprobieren“ und „Grenzen austesten“ durchgegangen wäre. Was Tom Landgraf tat, war nichts, was nicht auch andere seines Alters getan haben. Aber ein Sportschüler darf das nicht. Nicht im Sportinternat. Da gibt es keine Ausnahmen. Darauf angesprochen sagt Tom: „Ich habe damals einige Dummheiten gemacht. Ich hatte nicht die richtige Einstellung.“ Sylva Landgraf, Toms Mutter, selbst eine sehr ambitionierte Handballerin zu DDR-Zeiten, beschreibt den Tom von damals als schwierig. Als einen, mit dem es schwer war, umzugehen.
Dass Tom zum Handball findet, war programmiert. Die Mutter spielte selbst noch aktiv für Lok Aschersleben. „Ich war alleinerziehend, da war der Junge immer mit dabei“, erzählt Sylva Landgraf. Das Handball-Ein-mal-Eins lernte er bei Monika Schütze. Sie hatte jahrelang die Frauen in Aschersleben, unter anderem auch Sylva Landgraf, trainiert. Das Training mit den Kindern war eine willkommene Abwechslung für sie. „Tom hatte von Beginn an gute Karten“, sagt Monika Schütze: „Er ist Linkshänder, groß. Man hat gesehen, dass aus ihm etwas werden kann.“ Daran änderte auch seine stämmige Statur nichts. Er spielte – wie seine Mutter – im Tor. Aber auch im Feld. „Er wollte Tore verhindern. Und wenn es vorne nicht klappte, wollte er Tore werfen“, erzählt Monika Schütze.
Toms schwieriger Charakter war aber auch ihr manchmal zu viel. „Natürlich kam es auch vor, dass ich ihm gesagt habe, dass er die Halle verlassen soll“, erinnert sich Schütze: „Aber ich habe immer an den Jungen geglaubt.“ Genau wie die Mutter. Auch nach dem Rausschmiss aus der Sportschule. Schütze holte Tom sofort nach Aschersleben zurück. Und er bekam ein Zweitspielrecht für Eintracht Glinde. „Damit er vorwärts- kommt“, sagt Monika Schütze. Doch eine wirkliche zweite Chance war das noch nicht. Harry Jahns, einer aus der Magdeburger Talentschmiede, hatte dann entscheidenden Einfluss, dass Tom seine zweite Chance bekam. „Harry Jahns hat an Tom geglaubt“, sagt Sylva Landgraf. So kam der Kontakt nach Hildesheim zustande. Als die Eintracht damals in der 2. Bundesliga in Aschersleben zu Gast war, gab es ein Gespräch mit dem Manager der Eintracht. Ein Probetraining wurde anberaumt. Im März 2011 war das. „Die waren sofort Feuer und Flamme, als sich Tom vorstellte“, erinnert sich Sylva Landgraf. Und auch sie und Sohn Tom waren begeistert vom Internat, vom Sport- als auch vom Schulkonzept.
Tom Landgraf sagt heute, dass der Gang nach Hildesheim, das neue Umfeld, wichtig für seine Entwicklung war. Nicht nur sportlich – er hat sich dort endgültig für das Toreverhindern entschieden. Vor allem menschlich. „Ich musste mir alles neu erarbeiten. Es war meine neue Chance“, sagt er.
Dass sich seine Einstellung um 180 Grad gedreht hat, wurde seiner Mutter im vergangenen Jahr schlagartig bewusst. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass er nach dem Realschulabschluss wieder zurück nach Ascherleben kommt“, sagt Sylva Landgraf. Sie fuhr am Ende des Schuljahres 2011/12 nach Hildesheim, um Tom abzumelden, als er ihr sagte, er bleibe in Hildesheim, mache hier sein Abitur und spiele weiter für die Eintracht. „Da habe ich gemerkt, dass er nun weiß, was er will“, sagt Sylva Landgraf. Und Monika Schütze ergänzt: „Ich habe immer gesagt, er muss diese Phase der Flegeljahre überstehen, dann kann es was werden. Jetzt müssen wir ihm Vertrauen schenken.“
Dass Tom Landgraf am Samstag mit der deutschen Jugendnationalmannschaft zum European Youth Olympic Festival (kurz EYOF) – der europäischen Jugendolympiade – ins holländische Utrecht reist, daran haben aber weder die Mutter noch die ehemalige Trainerin geglaubt. „Dass er es so weit schafft, war ein Traum. Aber ein unrealistischer Traum“, sagt Sylva Landgraf. Doch es ist alles wahr. Tom hat durch seine Leistungen in der Hildesheimer B- und A-Jugend auf sich aufmerksam gemacht. In der Landesauswahl gehörte er zu den Besten. Im April wurde er das erste Mal – noch als Reservist – von Jugendbundestrainer Christian Schwarzer nominiert. Vor drei Wochen war es dann soweit: Tom Landgraf wurde zum Vorbereitungslehrgang für die europäische Jugendolympiade eingeladen. „Das ist ein geiles Gefühl“, sagt Tom: „Das ist das Größte für einen Jugendlichen in meinem Alter.“
Morgen wird er bei der Eröffnungsfeier mit der deutschen Delegation einlaufen. Sylva Landgraf will versuchen, dabei zu sein. „Ich bin sehr stolz“, sagt die Mutter: „Aber ich muss zugeben, auch ein bisschen neidisch.“ Das, was ihr Sohn nun erlebt, war zu DDR-Zeiten auch ihr Traum. Vor ein paar Tagen hat sie ihr Trainings-Tagebuch von damals hervorgeholt. „Ich möchte mal sein wie Wieland Schmidt und die Nationalhymne singen“, hat die damals Zwölfjährige verfasst.
Einer wie Wieland Schmidt ist Tom Landgraf noch lange nicht. Aber er hat sich selbst aus einem sportlichen Loch herausgezogen und ist dabei, seine zweite Chance zu nutzen. Und dafür gebührt ihm Respekt.