Wolfgang Böhmer im Porträt Wolfgang Böhmer im Porträt: "Angela Merkel hat mich gefragt: Was soll dieser Blödsinn?"

Magdeburg - Plötzlich ist Wolfgang Böhmer doppelt im Raum. Oben an der Hörsaalwand erscheint das legendäre Wahlplakat von 2002, es zeigt einen optimistisch strahlenden CDU-Spitzenkandidaten im weißen Chefarztkittel vor einem Neugeborenen, Slogan: „Wir werden das Kind schon schaukeln.“ Unten am Rednerpult steht der echte Wolfgang Böhmer, 82 Jahre alt ist er jetzt, das weiße Haar ist schütter, die Augenbrauen buschig. Ja, das Plakat - das habe nicht jedem gefallen, erinnert er sich. „Angela Merkel hat mich gefragt: Was soll dieser Blödsinn?“ Doch die Kampagne hatte Erfolg: 2002 eroberte die CDU die Staatskanzlei von der SPD zurück, ihr Spitzenkandidat Böhmer wurde Ministerpräsident und blieb es bis 2011. „Mir hat das Plakat nicht geschadet“, sagt Böhmer und lächelt kaum wahrnehmbar.
Für Anekdoten wie diese ist das Publikum gekommen. Der große Hörsaal 6 der Universität Magdeburg ist gut gefüllt an diesem Donnerstagvormittag. Die meisten im Saal haben die 60 überschritten, viele die 70. „Die doppelte Landesgründung von Sachsen-Anhalt“ heißt die Vorlesung, die der emeritierte Historiker Matthias Tullner in diesem Wintersemester gibt. Böhmer ist sein Stargast. Thema des Tages: die Affäre um Ministergehälter, die den damaligen Ministerpräsidenten Werner Münch 1993 das Amt und die CDU im Jahr darauf die Macht kostete. Böhmer war als Finanzminister dabei.
Das fatale Wort „Brillantring“ - Wolfgang Böhmer zeigt sich selbstkritisch
Bewegt ihn die Affäre auch heute noch, ein Vierteljahrhundert später? Eigentlich habe er sich damit nie wieder beschäftigen wollen, behauptet Böhmer, „das war so spannend nicht“. Dann schildert er aber doch erstaunlich detailliert, wie die Regierung Münch in die Affäre schlitterte. Das Ausgangsproblem: Aus dem Westen stammende Minister, Regierungschef Münch voran, hatten nach Einschätzung des Landesrechnungshofes zu hohe Gehälter kassiert. Doch die Landesregierung verpasste den Moment, darauf zu reagieren.
„Wir hätten das klären müssen“, sagt Böhmer selbstkritisch. Zu spät habe er als Finanzminister entschieden, die strittigen Gehaltsbestandteile vorerst nicht auszuzahlen. Hinzu kam ein Kommunikationsdesaster: Münch beharrte vor Journalisten darauf, Abgeordnete könnten die strittigen Pauschalen für ihr Büro verwenden, aber genauso gut auch für einen Brillantring. „Dieser Satz war eine Bombe“, konstatiert Böhmer heute.
Das Publikum hat die Zeit miterlebt, in der Magdeburger Minister bundesweit als „Raffkes“ Schlagzeilen machten. Viele nicken. Rechtlich waren die Gehälter nicht zu beanstanden, betont Böhmer. Doch als die Gerichte das später feststellten, hätten die Medien das Interesse am Thema verloren. „Objektiv war das nicht“, sagt Böhmer über die Berichterstattung. Er sagt es ohne Zorn. Der Polit-Pensionär hat den Status der Altersmilde erreicht.
Wolfgang Böhmer wollte nie Politiker werden
Eigentlich habe er nie Berufspolitiker werden wollen, erzählt er, „dazu hatte ich viel zu wenig Respekt vor diesen Leuten“. Seine Meinung habe sich aber geändert, die Ämter hätten ihm die Augen geöffnet. „Ohne diese Erfahrung wäre ich halbblind geblieben“, sagt der gelernte Mediziner. „Ich kannte mich gut aus in den Bäuchen anderer Menschen. Aber das ist nicht die ganze Welt.“
Bei manchen Details muss Böhmer mittlerweile länger im Gedächtnis kramen. Wie hieß doch gleich der Ort, in dem Angela Merkel 2002 ihrem Konkurrenten Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur für die Union überließ? Ach ja: Wolfratshausen. Böhmer spricht wie früher das gerollte R seiner Lausitzer Heimat, doch er spricht etwas leiser. Mancher im Saal legt die Hand ans Ohr, um ihn zu verstehen.
„Haben Sie das Gefühl von Macht empfunden?“, will ein Zuhörer wissen. „Ja“, sagt Böhmer ohne zu zögern. In der Politik gehe es darum, etwas durchzusetzen. Wer nur schön reden wolle, sei fehl am Platz. Offen bekennt Böhmer, dass ihm der Abschied aus der Politik schwergefallen sei. „Plötzlich kriegen Sie signalisiert: Wir brauchen dich nicht, wir können das allein. Da fehlt einem etwas.“
Wolfgang Böhmer: Die AfD ist ein vorübergehendes Phänomen
Von den heftigen Kämpfen der heutigen Politik ist Böhmer weit entfernt. Die AfD hält er für ein vorübergehendes Phänomen. Die Partei sei aus Unmut über die etablierten Parteien entstanden, sagt Böhmer, zerlege sich aber jetzt selbst. Böhmer denkt eine Weile nach, dann fällt ihm der Name einer anderen Partei ein: Die Piraten. „Die wollten auch alles anders machen und sind heute weg.“ Ebenso verschwunden wie die rechtsextreme DVU, die 1998 in den Landtag eingezogen war. „Die hatten ja Schwierigkeiten, ihre Zettel abzulesen“, sagt er.
Was er von einer Fusion Sachsen-Anhalts mit Sachsen und Thüringen halte, wird Böhmer gefragt. „Das ist eine Diskussion für Leute, die Langeweile haben“, antwortet er entschieden. Mit Bernhard Vogel und Georg Milbradt, den damaligen Regierungschefs in Erfurt und Dresden, habe er das Thema erörtert, aber folgenlos. Thüringen sei viel zu stolz auf seinen Titel „Freistaat“, Sachsen wiederum habe auf Leipzig als Hauptstadt bestanden. Realistische Chancen gebe es keine.
Wolfgang Böhmer sieht Reiner Haseloff mit kritischen Augen
In seiner Partei ist Böhmer bis heute hoch respektiert. Zeigt er sich bei einem Landesparteitag, brandet Beifall auf. Doch die Gelegenheiten, ihn zu erleben, werden seltener. Als die Landes-CDU im vergangenen Herbst Holger Stahlknecht zum neuen Chef wählte, fehlte Böhmer.
Auch innerlich geht Böhmer auf Distanz. Bekannt ist sein kritischer Blick auf den Amtsnachfolger Reiner Haseloff - beide wohnen in Wittenberg. An diesem Tag gibt es dazu kein Wort.
Und die CDU-Bundeschefin Annegret Kramp-Karrenbauer? Mache auf ihn „einen soliden Eindruck“, sagt Böhmer, zumindest für das Parteiamt. „Ob sie auch eine gute Wahl für das Amt der Kanzlerin wäre, muss ich nicht beurteilen.“ Böhmer steht über den heutigen Aufgeregtheiten. Und er stellt lakonisch fest, dass die heutige Führungsmannschaft auf seinen Rat verzichten kann. Er habe sich daran gewöhnt, dass die jetzt aktiven Politiker alle klüger seien als er, sagt er mit leisem Spott.
„Dass die nicht immer bei mir anrufen, ist normal“, sagt Böhmer. „Obwohl es mir gut täte“, setzt er dann hinzu. Und lacht. (mz)
