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Patienten in Sorge Sachsen-Anhalt gehen die Ärzte aus: Wie ein junger Dessauer zum Hoffnungsträger wird

Die Landarztquote soll Lücken bei der Hausärzteversorgung schließen. Vinzenz Müller hat gerade sein Medizinstudium begonnen – und sich als junger Mensch für die nächsten fast 20 Jahre festgelegt. Warum macht er das? Und was bringt die Quote in einer Mangellage?

Von Lisa Garn 19.11.2024, 12:00
Vinzenz Müller studiert seit Oktober Medizin in Halle: Er  hat sich verpflichtet, danach eine Hausarztpraxis auf dem Land zu übernehmen oder neu zu gründen.
Vinzenz Müller studiert seit Oktober Medizin in Halle: Er hat sich verpflichtet, danach eine Hausarztpraxis auf dem Land zu übernehmen oder neu zu gründen. Foto: Lisa Garn

Vinzenz Müller drückt die Türklinke zum großen Hörsaal herunter. Sie ist geschlossen. „Heute gab es nur eine Vorlesung, wahrscheinlich ist dann der Raum für den Rest des Tages zu.“ Der 24-Jährige sucht einen Platz, er kommt gerade aus einem Seminar am Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universitätsmedizin Halle. Ihm ist anzumerken, dass diese ersten Wochen aufregend waren, er ist regelrecht begeistert, davon zu erzählen. Seit Oktober studiert Müller Medizin, er kam über die Landarztquote zum Studium. Damit ist er eine Art Hoffnungsträger für die ambulante Versorgung in Sachsen-Anhalt. Gerade bei den Hausärzten sind die Lücken groß, gerade in den ländlichen Regionen.

Mit der Landarztquote kämpft das Land gegen einen stärker werdenden Mangel. Aktuell praktizieren laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) Sachsen-Anhalt 1.473 Hausärzte, 212 Stellen sind unbesetzt. Sangerhausen und Salzwedel gelten als unterversorgt, Zerbst, Jessen und Gardelegen stehen kurz davor. Das Problem ist der demografische Wandel, der auch vor der Ärzteschaft keinen Halt macht: Viele Mediziner sind bereits in Rente gegangen und es kommen zu wenig junge Ärzte nach. Aber das erst der Anfang: Denn bei den niedergelassenen Medizinern hat der Großteil das 60. Lebensjahr überschritten und geht demnächst in den Ruhestand.

107 Studenten über Quote

Über die 2020 eingeführte Landarztquote können junge Menschen ohne Spitzen-Abitur Medizin studieren. Im Gegenzug verpflichten sie sich, nach Studium und Facharztausbildung zehn Jahre in Sachsen-Anhalt als Hausarzt im ländlichen Raum zu arbeiten. Jährlich 6,3  Prozent der Studienplätze in der Humanmedizin sind so für künftige Landärzte reserviert. Bislang haben 107 Frauen und Männer ein Studium über die Quote aufgenommen. In diesem Jahr starteten 25 Studenten.

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Müller wusste schon in der Grundschule, dass er Arzt werden will. Anderen helfen, sie zu heilen – das faszinierte ihn, weil es im Grunde tägliches Thema war. Er stammt aus einer Arztfamilie. Seine Mutter ist Urologin in Dessau, eine von zwei ambulanten Urologinnen in der Stadt. Sein Vater arbeitet als Chirurg. „Ich bin damit aufgewachsen, dass meine Eltern am Küchentisch über medizinische Fragen diskutiert haben. Ich fand das sehr eindrucksvoll.“ Später schaute er Arztserien, las Krankheitsbilder nach und glich ab, ob Einschätzungen und Behandlungen aus dem Fernsehen stimmten. „Ich habe auch früh gemerkt, dass ich gut mit Menschen umgehen kann. Ich bin der Typ Kümmerer“, sagt Müller.

Für das Medizinstudium reichten dann aber seine Noten nicht. An den meisten deutschen Universitäten liegt der Numerus clausus (NC) in Medizin, also der notwendige Abiturschnitt für einen Studienplatz, bei 1,0 oder 1,1. Wer diesen Schnitt nicht hat, kann auf Extrapunkte durch Medizinertest oder durch Vorerfahrungen im medizinischen Bereich hoffen. Aber es bleibt schwierig.

In Dessau-Roßlau war ich immer der ,Sohn von’. Mit der Ausbildung, die ich extra nicht bei meiner Mutter gemacht habe, habe ich mir Unabhängigkeit geschaffen.

Vinzenz Müller, Medizinstudent

Dabei fehlen in Deutschland Ärzte. Man habe in den vergangenen zehn Jahren 50.000 Mediziner zu wenig ausgebildet, hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zuletzt kritisiert. Zudem haben viele Ärzte ihre Arbeitszeit reduziert. Und eine eigene Praxis scheuen die meisten, Uniabsolventen wollen lieber angestellt arbeiten. Ein weiteres Problem: Die meisten Studenten verlassen Sachsen-Anhalt nach dem Studium wieder. Vor allem auf dem Land finden sich kaum Nachfolger für Praxen. Die Folgen dieser Entwicklungen: Patienten warten oft lange auf Termine oder müssen weite Wege fahren.

„Ich habe in der Schule zu spät die Kurve bekommen“, sagt Müller heute. Nach der Schule ließ er sich zum Medizinischen Fachangestellten ausbilden. Für seinen Werdegang war das wichtig, um zu reifen. „In Dessau-Roßlau war ich immer der ,Sohn von’. Mit der Ausbildung, die ich extra nicht bei meiner Mutter gemacht habe, habe ich mir Unabhängigkeit geschaffen.“ Müller war dann trotzdem bei seiner Mutter angestellt, „aber ich wurde ernst genommen, auf einer fachlichen Ebene“. Er arbeitete zwei Jahre, sparte Geld – und wollte doch studieren. „Als Arzt kann man mehr machen, mehr auf Behandlung und Genesung einwirken.“

Erfolg im zweiten Anlauf

2022 bewarb er sich über die Landarzt-Quote, fiel jedoch durch den Online-Test, einem spezifischen Studierfähigkeitstest. Im Mai 2024 versuchte er es erneut. Einen Monat später „kam ein großer Briefumschlag mit der Zulassung. Da habe ich auch ein paar Tränchen verdrückt“. Seit Oktober pendelt Müller aus Dessau nach Halle – das Programm ist straff. „Ich stehe um fünf Uhr auf, um den Zug um 6 Uhr zu erwischen. Ich dachte, dass ich das besser wegstecke, aber es strengt an.“ Denn auch an der Uni ist es viel Stoff, viel Nachbereitung. „Ich habe zwei Jahre gearbeitet. Ich musste erstmal wieder in den Lernmodus kommen, das klappt jetzt ganz gut.“

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Und doch bleibt es eine sehr weitreichende Entscheidung, sich als junger Mensch auf eine Fachrichtung und viele Jahre ambulante Tätigkeit festzulegen. Selbst Keller, der unbedingt Arzt werden wollte, sagt, dass er darüber nachdenken musste. „Es ist ein Vertrag, den man unterschreibt. Ich lege fest, was ich die nächsten 20 Jahre mache – Studium und Facharztausbildung dauern etwa elf Jahre, danach mindestens zehn Jahre eine Praxis.“ Aber er will genau das, sagt er. „Als Hausarzt habe ich mehrere medizinische Felder, es ist herausfordernd. Und ich kann Menschen über Jahre begleiten – anders als in Kliniken mit hohem Durchlauf.“ Und gerade im Ländlichen habe der Hausarzt auch eine soziale Funktion. „Das passt zu mir, weil ich so bin.“

Doch Müller wird auch in einem Beruf arbeiten, in dem sich Rahmenbedingungen verändert haben. Immer mehr Patienten, Fachkräftemangel, Budgetgrenzen, Digitalisierung und Bürokratie – der Druck ist gestiegen. Programme wie die Landarztquote sollen helfen – aber das allein wird nicht reichen. Viele Maßnahmen laufen, einige greifen erst langfristig, um andere wird gestritten.

Der Arztmangel trifft auch den stationären Bereich und alle Bundesländer.

Jörg Böhme, Vorstandsvorsitzender Kassenärztliche Vereinigung

Die Landarztquote wertet Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne (SPD) sei „aufgrund ihrer sehr guten Resonanz ein wichtiger Schritt, um junge Ärzte“ zu gewinnen. Doch sie drängt auf weitere Änderungen. „Dazu gehören die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Ärzte, Förderung der Weiterbildung in ländlichen Regionen, Stipendien und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen.“

Die KV hält entgegen, mit verschiedenen Programmen auch für Allgemeinmediziner gegenzusteuern, unter anderem mit Stipendien oder Förderung für Studium und Praxisgründungen. Zudem wurden Kompetenzzentren für die Weiterbildung gegründet.

Mehr Studienplätze gefordert

Doch der sich zuspitzende Ärztemangel werde politisch zu wenig ernst genommen, kritisieren Ärztevertreter. Die KV fordert bundesweit mehr Medizinstudienplätze. „Der Arztmangel trifft auch den stationären Bereich und alle Bundesländer“, so KV-Chef Jörg Böhme. Und: „Die Quote muss auf Fachärzte ausgeweitet und wesentlich erhöht werden.“ Doch mehr Studienplätze lehnt das Landeswissenschaftsministerium aus Kostengründen ab. „Sachsen-Anhalt ist mit Blick auf seine Bevölkerung mit zwei medizinischen Fakultäten in Halle und Magdeburg vergleichsweise stark aufgestellt und deckt mit durchschnittlich rund 400 Absolventen der Humanmedizin pro Jahr den Eigenbedarf grundsätzlich ab“, heißt es.

Müller sieht die Landarztquote vor allem als eine Chance. „Ich bin sicher, dass es viele Menschen gibt, die sehr gute Ärzte werden könnten, aber wegen des NC keine Gelegenheit bekommen.“ Eine Hausärztin aus Dessau hatte ihm sogar schon ihre Praxis angeboten – halb scherzhaft. „Aber wer weiß? Ich hätte da richtig Lust drauf.“