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MZ-Gespräch  MZ-Gespräch mit dem Agrarbiologen Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle

Von Steffen Höhne 18.04.2017, 10:00
Pflanzenschutzmittel vergiften auch nützliche Hummeln.
Pflanzenschutzmittel vergiften auch nützliche Hummeln. DPA

Halle (Saale) - Das Phänomen kennen viele Autofahrer: Im Sommer sind die Autoscheiben nach der Fahrt nicht mehr so voll mit Insekten wie vor 20 Jahren. Das liegt am Insektensterben, sagen viele Umweltschützer. Kann sich der Rückgang der Populationen auch auf das Bestäuben von Nutzpflanzen auswirken? Wie ernst ist die Lage? MZ-Redakteur Steffen Höhne sprach mit dem Agrarbiologen Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, der seit Jahren zum Thema forscht und als Sachverständiger die Politik berät.

Naturschutzverbände warnen vor einem dramatischen Insektensterben in Deutschland. Gibt es dieses?

Settele: Es gibt deutliche Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass wir da ein Problem haben. Bisher stehen aber nur wenig gute Studien zur Verfügung, die ein Insektensterben genau belegen. Die Umweltverbände haben das Thema aufgegriffen. Dabei wird immer die berühmte Krefelder Studie zitiert.

Was sind deren Ergebnisse?

Settele: Die Studie erfasst mit einer bestimmten Methode, die sich Malaise-Falle nennt, die Insektenpopulationen. Ehrenamtliche hatten dafür zwischen 1989 und 2014 an 88 Orten in Nordrhein-Westfalen fliegende Insekten in Fallen gesammelt, bestimmt und gewogen. Während man 1995 noch durchschnittlich 1,6 Kilogramm Biomasse an jeder Untersuchungsstelle gefangen hatte, waren es 2013 und 2014 nur noch rund 300 Gramm. Das entspricht einem Rückgang von 80 Prozent. Ich will die Ergebnisse auch nicht infrage stellen. Man sollte jedoch vorsichtig sein, vorschnell die Ursachen dafür zu benennen. Die Erhebungen wurden vorrangig in Naturschutzgebieten durchgeführt. Den Rückgang daher allein mit Pestiziden aus der Landwirtschaft zu erklären, was gerne gemacht wird, ist sehr gewagt.

Wir sorgen uns um die Populationen im Regenwald, wissen aber nicht, was vor unserer Haustür passiert?

Settele: Wir wissen es nirgends so richtig gut - vom Regenwald besonders wenig. Es gibt weltweit nur wenige Langzeit-Monitorings zu Insekten, welche die Populationen über Jahre verfolgen. In Europa sind wir da noch vergleichsweise gut. Viele Erhebungen basieren darauf, dass es enthusiastische Bürger gibt, die so etwas betreiben. Ein systematisches Erfassen steckt noch in den Kinderschuhen.

Wie kommt es zum Insektensterben?

Settele: Es gibt vermutlich einen ganzen Strauß von Gründen. Als Erstes wird häufig der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft genannt. Andere Faktoren sind Monokulturen im Agrarbereich, der Verlust von Hecken und Randstreifen auf den Feldern. Hinein spielt aber vielleicht auch der Klimawandel. Das Dilemma ist, es gibt wahrscheinlich nicht einen Grund. Der Klimawandel wird sich mittelfristig sicher spürbar auswirken, kann aktuell lokale Phänomene aber nur in seltenen Fällen gut erklären.

Besonders in der Kritik von Umweltverbänden steht der Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft. Doch der war vor 20 Jahren kaum geringer als heute, oder?

Settele: Von der Menge hat sich der Einsatz chemischer Mittel seit den 80er und 90er Jahren nicht sehr gravierend verändert. Doch haben wir heute ganz andere Wirkstoffe, die in hoher Konzentration in kleinsten Mengen wirken. Und es gibt eine Verschiebung in den Vorgehensweisen, wie bei den Neonicotinoiden, mit denen das Saatgut bereits behandelt, also gebeizt wird. Mit kleinsten Mengen wird die Pflanze gesichert oder kontaminiert, je nach Sichtweise. Bei Neo-nicotinoiden handelt es sich um hochtoxische Stoffe.

Müssen die Neonicotinoide vom Markt?

Settele: Diese Stoffe bauen sich wesentlich langsamer ab, als bisher gedacht. Das führt dazu, dass die Gifte großteils auch im Boden und im Wasser landen. Es gilt als wissenschaftlich gesichert, dass die Neonicotinoide zum ungewollten Insektensterben beitragen. Doch wenn man deren Abschaffung fordert, dann muss man sich auch Gedanken darüber machen, was die Alternativen sind. Denn die Landwirte benötigen Mittel, um Pflanzen vor bestimmten Insekten, wie zum Beispiel dem Maiszünsler, zu schützen. Ich halte es daher für unglücklich, wenn man einzelne Pflanzenschutzmittel so in den Fokus stellt und nicht umfassender an die Konsequenzen denkt.

Warum?

Settele: Weil sehr wahrscheinlich immer mehrere Faktoren zusammenspielen. Angenommen die Neonicotinoide verschwinden vom Markt, aber das Insektensterben geht weiter, dann verliert die Argumentation der Naturschützer an Glaubwürdigkeit. Man sollte vorsichtig sein mit Kausalitäten. Heute wird beispielsweise das Insektensterben immer anschaulich daran festgemacht, dass im Sommer weniger Insekten an der Windschutzscheibe der Fahrzeuge kleben. Das Phänomen hat sicher jeder schon einmal beobachtet. Doch es könnte nicht nur an fehlenden Insekten liegen, sondern auch daran, dass die heutigen Fahrzeuge viel aerodynamischer gebaut sind. Im Windkanal fliegen nicht so viele Insekten an die Scheibe. Wir haben das, allerdings nicht unter wissenschaftlichen Maßstäben, getestet. Früher waren beispielsweise die Windschutzscheiben in vielen Autos steiler, auch deswegen musste man häufiger Insekten abkratzen.

Bei welchen Insekten ist der Rückgang besonders groß?

Settele: Der Rückgang scheint sich nicht auf bestimmte Insektengruppen zu beschränken. Es trifft praktisch alle sowohl die direkt sich von Pflanzen ernährenden, also zum Beispiel Schmetterlinge oder Blattkäfer, als auch die von diesen lebenden Räuber, wie etwa Libellen, und vermutlich auch Parasiten. Über die Pollenaufnahme sind auch Honigbienen und Wildbienen wie Hummeln betroffen. Die Bestäuber sind also auch berührt. Über das Bienensterben wurde schon häufiger berichtet. Auch Neonicotinoide spielen dabei eine kritische Rolle.

Müssen wir uns sorgen, dass die Kirschbäume wegen einer fehlenden Bestäubung bald keine Früchte mehr tragen?

Settele: Ich kenne keine Erhebung, die so etwas bereits ermittelt hätte. Die Gefahr sehe ich nicht. Bemerkbar macht sich aber bereits, dass Vogelarten, die sich speziell von Insekten ernähren, weiter abnehmen. Zu diesen Insektenfressern zählen unter anderem die Amsel oder das Braunkehlchen.

Was kann getan werden, damit es wieder mehr Insekten gibt?

Settele: Der Lebensraum macht bei seltenen Arten sehr viel aus. Wir haben in Deutschland eine Homogenisierung der Landschaft durch die Nutzung, die führt auch zu einer Homogenisierung der Tierwelt. Auch durch kleinere Maßnahmen wie das Anlegen von Hecken und Blühstreifen kann für Insekten einiges erreicht werden. Grundsätzlich ist eine Umorientierung der Landwirtschaft in Richtung ökologischer Praktiken und weg vom rein chemischen hin zum integrierten Pflanzenschutz essenziell.

Wie schnell können sich die Insektenpopulationen erholen?

Settele: Das ist die gute Nachricht. Insekten besitzen bekanntermaßen hohe Reproduktionsraten. Fallen einige negative Faktoren weg, dann ist auch durchaus eine Umkehr der Entwicklung möglich. (mz)