Illegal aber gerechtfertigt Illegal aber gerechtfertigt: Das sind die Einbrecher die Schweine retten

Naumburg - Erst trauen sie sich gar nicht zu jubeln - „Kaspereien“ hatte sich der Vorsitzende Richter in seinem Gerichtssaal streng verbeten. Als das Urteil aber verkündet ist, gibt es für die mitgereisten Unterstützer kein Halten mehr. Die drei Angeklagten Sandra Franz, Erasmus Müller und Jürgen Foß sehen sich an und lächeln. Sie sind freigesprochen, können als unbescholtene Bürger nach Hause fahren.
„Diese drei Freisprüche sind wahrscheinlich eine juristische Überraschung“, sagt der Vorsitzende Richter Gerd Henss zum Abschluss seiner Ausführungen. So kann man es formulieren: Mutmaßlich zum ersten Mal erklärt es ein deutsches Obergericht für zulässig, dass Tierschützer heimlich in einen fremden Stall eingedrungen sind. Henss spricht von „rechtfertigendem Notstand“: Die Eindringlinge hätten gequälte Schweine gefilmt und damit einen Skandal aufgedeckt. „Wir alle sollten darüber froh sein“, sagt er.
Wären die Schweine Menschen, wäre Sandbeiendorf die viertgrößte Stadt im Land
Fast fünf Jahre liegt der heimliche Stallbesuch zurück, Tatort: Sandbeiendorf in der Börde. Gut 200 Menschen leben in dem Ort am Rand der Colbitz-Letzlinger Heide. Wer die locker dahingestreuten Häuschen sieht, ahnt nicht, wie eng es wenige Hundert Meter südlich zugeht, bei der van Gennip Tierzuchtanlagen GmbH. Deren Ställe nehmen ähnlich viel Fläche ein wie das Dorf. Die Zahl der hier gehaltenen Tiere: 62.000. Wären es Menschen, wäre Sandbeiendorf die viertgrößte Stadt in Sachsen-Anhalt.
Der Grundstein für die Mega-Schweineställe von Sandbeiendorf (Landkreis Börde) wurde in DDR gelegt, unter dem Namen Kombinat Industrielle Mast. In den 1990er Jahren übernahm der Holländer Harrie van Gennip den Betrieb mit 62.000 Schweinen. Er gilt als größter Europas. Die Abkehr von traditioneller Tierhaltung ist in Ostdeutschland besonders ausgeprägt. Sachsen-Anhalt hat bundesweit die im Schnitt größten Ställe. Rund 200 Betriebe (gezählt werden nur Standorte mit mehr als 50 Tieren) halten 1,2 Millionen Schweine, davon 560.000 Ferkel. Das sind im Schnitt 5.900 Tiere je Betrieb. Es folgen Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg. Zum Vergleich: Bayerische Landwirte halten durchschnittlich 650 Tiere. (mz)
Zwei Mal sind die Tierschützer in die Mega-Anlage eingestiegen, am 29. Juni und am 11. Juli 2013. Um keine Keime einzuschleppen, legten sie Schutzanzüge an und desinfizierten ihre Kamera. Die Bilder, die sie mitbrachten, sind entsetzlich. Zu sehen sind in Stahlgitter eingepferchte Schweine, die sich kaum rühren können. Magere Ferkel verenden auf dem Boden. In der Gruppenhaltung wird ein größeres Tier, bereits tot, von Artgenossen angestupst. Unter dem Spaltenboden wimmeln weiße Maden, in der Luft schwirren Millionen Fliegen. Es ist ekelerregend - wer die Fotos ansieht, wird sie lange nicht vergessen. Sie haben nichts zu tun mit dem Fleisch glücklicher Tiere, die das die Lebensmittelkonzerne in ihrer Werbung anpreisen.
Und sie zwingen die Behörden zum Eingreifen. Am 11. November 2013 landen DVDs mit den Aufnahmen bei der Staatsanwaltschaft Magdeburg, im Umweltministerium und im Landesverwaltungsamt. Die Behörde mit Sitz in Halle urteilt am 18. Dezember 2013 über die Arbeit des Veterinäramtes im Landkreis Börde - vernichtend. Dessen Erklärungen seien „wenig aussagekräftig“, heißt es. „Inhaltlich lassen sie aber den Schluss zu, dass die durch den Landkreis in den letzten Jahren durchgeführten Kontrollen nicht unerhebliche tierschutzwidrige Zustände gedeckt haben.“
War die Behörde mit der Mega-Anlage schlicht überfordert?
Der Landkreis hat also jahrelang geduldet, dass in van Gennips Tierfabrik Tiere leiden mussten. War die Behörde mit der Mega-Anlage schlicht überfordert? Oder hat sie absichtlich weggesehen? Für vorsätzliches Handeln gebe es keine Hinweise, urteilte der Referatsleiter für Veterinärangelegenheiten am 8. April 2014 in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft. Der Landkreis sei aber „zu zaghaft“ vorgegangen, um die Mängel abzustellen.
Die nun angeordneten Kontrollen im Stall ergeben eine lange Liste an Mängeln. Es geht nicht um die schiere Menge an Tieren - die ist ganz legal. Es geht um zu breite Spalten im Boden, an denen sich die Schweine verletzen. Es geht um fehlendes Wasser, nicht ausreichende Beleuchtung, zu enge Kastenstände, in denen die Tiere eingezwängt sind.
Revisionsprozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg musste Klärung bringen
Aber: Durften die Tierschutz-Aktivisten einfach über den Zaun steigen und diese Missstände dokumentieren? Das Amtsgericht Haldensleben fällt im September 2016 ein überraschendes Urteil: Das Eindringen war zweifelsohne Hausfriedensbruch - dieser war aber gerechtfertigt, weil die Tierschützer keine andere Möglichkeit gehabt hätten, dem Leiden ein Ende zu bereiten. Genauso sieht es im Oktober 2017 auch die zweite Instanz. Der Vorsitzende Richter am Landgericht Magdeburg spricht den Angeklagten sogar ausdrücklich ein Lob aus. „Sie haben genau das getan, was nötig war und was als mildestes Mittel zur Verfügung stand“, urteilt Ulf Majstrak.
Der Revisionsprozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg musste nun klären, ob der Vorinstanz Rechtsfehler unterlaufen sind. Richter Henss sieht ein Problem: Ob man denn noch von Notstand reden könne, wenn zwischen den Videoaufnahmen und der Anzeige vier Monate vergangen seien? Zu dem Zeitpunkt, gibt er zu bedenken, seien die gefilmten Tiere mutmaßlich längst geschlachtet gewesen. Der Verteidiger widerspricht - zwar hätten Mastschweine tatsächlich ein kurzes Leben. Die Zuchtsauen aber müssten die Zustände vier bis fünf Jahre ertragen.
„Tagtäglich passieren in der Massentierhaltung unvorstellbare Grausamkeiten“
Sandra Franz, die aus Halle stammt und heute in Berlin lebt, schildert ihren Antrieb. „Tagtäglich passieren in der Massentierhaltung unvorstellbare Grausamkeiten. Und immer wieder machen wir die Erfahrung, dass es die Veterinärämter und die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht interessiert“, erklärt sie ihr Engagement.
Wie denkt der Betreiber des Stalls über Tierschützer, die bei ihm einsteigen? Welches Verhältnis hat er zu den Tieren in seinem Stall? Fragen werde man ausschließlich schriftlich beantworten, sagt eine Mitarbeiterin in Sandbeiendorf. Die MZ schickt eine E-Mail, doch Betriebsleiter Jan Groen lässt sie unbeantwortet.
Besitzer der Anlage ist der Holländer Henricus Christianus Maria van Gennip, Kurzname Harrie. Der 61-Jährige stammt aus einem Vorort von Eindhoven. Mehr als ein Dutzend Agrarfirmen sind unter seiner holländischen Meldeadresse registriert. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Verstöße in Sandbeiendorf hat die Staatsanwaltschaft eingestellt. Vor Gericht verantworten müssen sich die Tierschützer. Ist das gerecht?
Richter: „Hier sind bewusst Missstände vertuscht worden“
Richter Henss nennt das Delikt einen „Stallfriedensbruch“, in Anlehnung an den Hausfriedensbruch. Doch wurde da tatsächlich ein Frieden gebrochen, fragt er. „Im christlichen Kulturkreis stellt man sich unter einem friedlichen Stall etwas anderes vor als das Elend, das die Angeklagten aufgedeckt haben.“ Zwar müsse man sich grundsätzlich zunächst an die Behörden wenden, betont er. Die aber hätten versagt. „Hier sind bewusst Missstände vertuscht worden.“
Nach dem Jubel geben die Freigesprochenen im Gericht Interviews. Werden sie nun wieder in Ställe einsteigen? Sandra Franz hat ihren in Halle lebenden Eltern längst versichert: nie wieder. „Ich bin wahnsinnig froh, dass der Richter so deutliche Worte gefunden hat.“ Für ihren Mitstreiter Jürgen Foß hat das Urteil den Glauben an das Gute bestärkt. „Wir wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Stück für Stück bewegt sich etwas.“ (mz)