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DDR-Volksaufstand vor 70 Jahren Heinz Hildebrandt - ein spätes Opfer des 17. Juni 1953

Mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 hat Heinz Hildebrandt gar nichts zu tun. Warum der Mann, der fast 40 Jahre später als Alterspräsident Sachsen-Anhalts ersten frei gewählten Landtag nach der Wende eröffnen wird, dennoch ins Visier der Stasi gerät.

Von Alexander Schierholz Aktualisiert: 17.06.2023, 11:01
Heinz Hildebrandt, hier in einer Aufnahme von 1992. Mehr als ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wird er festgenommen, weil er sich für einen inhaftierten Kollegen eingesetzt hat.
Heinz Hildebrandt, hier in einer Aufnahme von 1992. Mehr als ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wird er festgenommen, weil er sich für einen inhaftierten Kollegen eingesetzt hat. (Foto: MZ-Archiv / Günter Bauer)

Halle/MZ - Auf der Suche nach Sündenböcken für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ist dem SED-Staat nahezu jedes Mittel recht – auch Monate später noch. Bei Heinz Hildebrandt genügt es, dass er sich für einen verhafteten Kollegen eingesetzt hat: Hildebrandt, Oberförster in der Dübener Heide, wird im August 1954 selbst festgenommen und wegen angeblicher Propaganda für den Nationalsozialismus zu 25 Monaten Haft samt lebenslangem Berufsverbot verurteilt.

Dabei hat der Mann, der fast 40 Jahre später als Alterspräsident Sachsen-Anhalts ersten frei gewählten Landtag nach der Wende eröffnen wird, mit den vom SED-Staat zum „faschistischen Putsch“ umgedeuteten Ereignissen des 17. Juni gar nichts zu tun.

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Zwar hält er sich an jenem Tag wegen eines dienstlichen Termins in Bitterfeld auf und nimmt auch an der Kundgebung der tausenden streikenden Arbeiter im Stadtzentrum teil. Doch als am Nachmittag schwerbewaffnete sowjetische Soldaten anrücken, fährt er auf seinem Dienstmotorrad wieder nach Hause.

Heinz Hildebrandt sammelt für einen inhaftierten Kollegen Geld - das bringt ihn selbst ins Gefängnis

Wenige Wochen später, Staatlicher Forstwirtschaftsbetrieb Dübener Heide in Tornau (heute Kreis Wittenberg): Der SED-Parteisekretär hat die Forstleute einberufen, um einen der ihren als vermeintlichen Rädelsführer des Aufstandes zu brandmarken – auch in den Oberförstereien in Tornau und Pratau war gestreikt worden. Angeblich auf Initiative des Waldarbeiters Hermann Richert, der nun fristlos entlassen werden soll.

Hildebrandt will das nicht zulassen. Er stellt sich hinter Richert und erklärt in einer kurzen Ansprache, dieser sei gar nicht in der Lage gewesen, einen Streik zu organisieren, da er keinen Zugang zu einem Telefon habe und nur ein altes Fahrrad besitze: „Ich bleibe dabei: Richert ist unschuldig.“

Dann steht er auf und geht mit seinem Försterhut durch die Reihen, Geld sammeln für den verhafteten Kollegen. Später fordert er in einem Brief an die Stasi dessen Freilassung und organisiert dafür eine Unterschriftensammlung.

Die konstituierende Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt im Oktober 1990 in Dessau. Heinz Hildebrandt hat die Tagung als Alterspräsident eröffnet.
Die konstituierende Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt im Oktober 1990 in Dessau. Heinz Hildebrandt hat die Tagung als Alterspräsident eröffnet.
(Foto: Günter Bauer)

Ab Anfang 1954 wird Heinz Hildebrandt intensiv von der Stasi beobachtet

Danach rechnet Hildebrandt damit, selbst inhaftiert zu werden. Ab Anfang 1954 wird er intensiv von der Stasi beobachtet, bis die Behörden im August schließlich zuschlagen. Während eines Urlaubs mit seiner Frau im Harz nehmen sie ihn fest und bringen ihn nach Halle. Zunächst lautet der Vorwurf auf Spionage für die „Organisation Gehlen“, den Vorläufer des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes.

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Weil sich das natürlich nicht nachweisen lässt, wird Heinz Hildebrandt schließlich wegen seines Einsatzes für seinen inhaftierten Kollegen Hermann Richert angeklagt. Hildebrandts Geldsammlung für Richert wertet die DDR-Justiz als „Sympathiebeweis“ für den Volksaufstand, die Unterschriftensammlung als „Boykotthetze“ gegen die DDR. Hildebrandt wird verurteilt, wegen einer Amnestie aber im September 1955 vorzeitig aus der Haft entlassen.

1990 eröffnet er den ersten frei gewählten Landtag - „der glücklichste Augenblick meines Lebens“

Gebrochen ist seine Biografie dennoch: In der Forstwirtschaft darf er nicht mehr arbeiten. Sein Berufsleben beschließt er 1986 als Leiter einer HO-Verkaufsstelle in Wernigerode. Es folgt eine kurze politische Karriere: Hildebrandt, nach einem kurzen Intermezzo Ende der 40er Jahre bei der KPD und der SED, über Jahrzehnte Mitglied der Liberaldemokraten in der DDR, tritt 1990 der FDP bei.

Als Alterspräsident eröffnet er am 28. Oktober 1990 in Dessau die konstituierende Sitzung des ersten Landtages von Sachsen-Anhalt nach der Wende – in Försteruniform.

Bis 1994 bleibt Heinz Hildebrandt Landtagsabgeordneter

Für ihn, so sagt er es selbst in seiner Eröffnungsrede, ist es eine Sternstunde: „Dies ist der glücklichste Augenblick meines Lebens, an dem ich, als der Älteste unter Ihnen, die erste frei gewählte Volksvertretung des Landes Sachsen-Anhalt nach mehr als 40 Jahren eröffnen und leiten darf.“

Bis 1994 bleibt Heinz Hildebrandt Landtagsabgeordneter. 2003 stirbt er. Am 31. Juli 2021, einem Samstag, wäre er 100 Jahre alt geworden – Anlass für Landtagspräsident Gunnar Schellenberger (CDU), ihn am Tag zuvor in der Landtagssitzung als „unermüdlichen Demokraten“ zu würdigen.