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Deutschland für Anfänger Deutschland für Anfänger: Asylsuchende lernen Grammatik und Werte in Magdeburg

Von Julius Lukas 03.11.2017, 11:00
Fast eine reine Männersache: Beim Erstorientierungskurs in Magdeburg sind 17 Teilnehmer Männer und nur drei Frauen. Beim Thema Essen lässt Lehrer Pawel Nadzieja seine Schüler auch den Tisch decken.
Fast eine reine Männersache: Beim Erstorientierungskurs in Magdeburg sind 17 Teilnehmer Männer und nur drei Frauen. Beim Thema Essen lässt Lehrer Pawel Nadzieja seine Schüler auch den Tisch decken. Uli Lücke

Das Angebot im Einkaufsladen ist reichhaltig. Es gibt Butter und Kuchen. Honig und Nudeln. Fisch und Fleisch. Doch Jean will als erstes Bier haben. „Viel Bier“, sagt er und sorgt für allgemeine Erheiterung im Gruppenraum der Erstaufnahmeeinrichtung in Magdeburg. 20 Frauen und Männer sitzen dort. Sie kommen aus zehn verschiedenen Ländern, die älteste von ihnen ist 41, die jüngste 18 Jahre alt. Und alle haben ein Ziel: In Deutschland leben.

Jean ist einer der Asylsuchenden. Er stammt aus dem westafrikanischen Burkina Faso und sein Einkauf ist nicht echt. Die Waren sind auf bunte Papierschilder geschrieben. Auf einem steht auch das geforderte Bier - 10,99 Euro plus 3,10 Euro Pfand. Nicht ganz preiswert, aber hierzulande eben ein beliebtes Getränk - so viel hat Jean in den wenigen Wochen, die er in Deutschland lebt, bereits gelernt. „Die Deutschen trinken viel Bier“, sagt er und sorgt erneut für Heiterkeit.

Seminar zur Erstorientierung in Magdeburg

Die Einkaufsübung ist Teil eines sogenannten Erstorientierungsseminars. Das ist eine Art Crash-Kurs in deutscher Lebensart. Ausgedacht hat ihn sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das ihn auch finanziert. In 300 Stunden soll vermittelt werden, wie Deutschland tickt. Eine Mischung aus Sprachunterricht, Alltagstipps und Heimatkunde. Deutschland für Anfänger sozusagen.

Auch in Magdeburg wird der Kurs seit September angeboten. Hier ist der örtliche Träger die Johanniter-Unfall-Hilfe. Den Verein kennt man eher aus dem Rettungswesen, allerdings betreibt er auch das Bungalow-Dorf für Asylsuchende. Im Mai 2016 wurde es eröffnet. Damals noch unter dem Eindruck der Tausenden Menschen, die seit dem Sommer gekommen waren. Jetzt wirkt die Häuser-Siedlung wie eine Ferienanlage - nur ohne bunt gestrichene Fassaden und auch die Poollandschaft fehlt.

Pawel Nadzieja unterrichtet Kurs für Asylsuchende in Magdeburg

Punkt neun Uhr beginnt der Kurs. Und die erste Überraschung gibt es bereits zu Unterrichtsbeginn. Der Lehrer heißt Pawel Nadzieja und kommt aus Polen. Ein adrett gekleideter junger Mann, mit sanfter Stimme und einem Lachen, das eher ein Kichern ist. Er ist auf Anhieb sympathisch, doch: Ein Pole unterrichtet Iraner, Inder und Nigerianer in deutscher Sprache und Kultur? Klingt kurios.

Allerdings kennt Nadzieja Deutschland besser als viele Einheimische. Er hat deutsche Sprachwissenschaft studiert und in diesem Fach auch promoviert. Seit acht Jahren lebt er hier, erst in Dresden, nun in Magdeburg. „Ich weiß, wie es ist, als Ausländer ein Land und eine Sprache neu kennenzulernen“, sagt er selbstbewusst. „Vielleicht bin ich gerade deswegen besonders gut als Lehrer für solche Kurse geeignet.“

Orientierungskurs in Magdeburg ist aus sechs Modulen aufgebaut

Der Orientierungskurs ist aus sechs Modulen aufgebaut, die Schule und Arbeit, Sitten und Gebräuche oder auch Werte und Zusammenleben heißen. Gerade sind Pawel Nadzieja und seine 20 Schützlinge beim Komplex Einkaufen und Essen angelangt. Doch damit startet der Unterrichtstag nicht.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wird erst einmal eine Landkarte ausgerollt. Erinnerung an den Geografieunterricht kommen hoch. „In welchem Land leben wir?“, fragt Nadzieja. „Deutschland“, antworten seine Schüler im Chor. „Und in welchem Bundesland?“ - „Magdeburg“, meint nun der Chor, der deutlich an Stimmkraft verloren hat. Pawel Nadzieja guckt etwas schief. Die ersten beginnen zu grinsen. „Sachsen-Anhalt“, sagt dann einer. Der Lehrer nickt und fährt mit seinem Geo-Quiz fort.

Wettbewerb unter Teilnehmern im Orientierungskurs in Magdeburg

So geht das etwa 20 Minuten. Nach einer kurzen Grammatikeinheit (Präpositionen, Dativ, Akkusativ - schwere Kost), wird es dann praktischer. Nadzieja hat Geschirr dabei. „Jetzt wird der Tisch gedeckt“, sagt er. Oumarou, 38, aus dem Niger, bekommt Teller, Tassen und Besteck in die Hand. Zielsicher sortiert der Westafrikaner alles an seinen Platz. Dann hält er die Kuchengabel in die Luft und zieht die Schultern fragend in die Höhe.

Ein regelrechter Wettbewerb unter seinen Mitschülern startet nun. Der kleine Dreizack wandert mehrmals rund um den Teller, bis er schließlich am oberen Rand, noch unter dem kleinen Löffel landet. Aber stimmt das? Schnell ist das Mobiltelefon bemüht. Google sagt ja. Nächste Frage: Muss man so etwas wissen?

„Wichtige Fähigkeiten, auch wenn man nur ein paar Wochen oder Monate in Deutschland bleibt“

„Das ist schon der erste Schritt zur Ausbildung zum Hotelfachmann“, scherzt Lena Jaschob von den Johannitern. Sie leitet die Erstaufnahmeeinrichtung und wird im nächsten Satz gleich ernster: „Wir wollen, dass unsere Bewohner eine Basis für das Leben in Deutschland bekommen.“

Es gehe um grundsätzliche Dinge, wie ein Straßenbahnticket kaufen, beim Arzt sagen können, wo man Schmerzen hat oder sich in einem Supermarkt zurecht finden. Und eben auch um so Alltägliches wie Tischdecken. „Das sind ja wichtige Fähigkeiten, auch wenn man nur ein paar Wochen oder Monate in Deutschland bleibt“, meint Jaschob.

Dazu muss man wissen, dass alle Bewohner des Bungalow-Dorfes einen ungeklärten Status haben. Ihre Asylanträge sind vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch nicht bearbeitet worden. Ihre Zukunft in Deutschland ist also ungewiss. So wie bei Jean, dem Bierkäufer.

Erstorientierungskurs ist nicht verpflichtend

Seit seiner Kindheit träume er davon, hier zu leben. „Damals habe ich einen Mercedes gesehen, gutes Auto“, sagt er. Aus Burkina Faso ist Jean erst mit dem Flugzeug nach Frankreich geflogen und dann nach Deutschland weiter gereist - obwohl er sehr gut Französisch spricht. Hier wurde er nach Sachsen-Anhalt geschickt. „In meiner Heimat war ich Lehrer“, sagt Jean. Hier wolle er in der Landwirtschaft arbeiten. Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, ist fraglich - schon allein, weil er über Frankreich eingereist ist.

Auch bei Annahita ist noch nichts entschieden. Die junge Iranerin mit den dunklen Haaren und dem einnehmenden Lachen ist mit ihrer Mutter geflohen. „Wir sind zum Christentum konvertiert“, erzählt die 18-Jährige. „Und wurden deswegen von unserer Familie verstoßen.“ Ihr Vater wisse nicht, wo sie sind. „Würde wir zurückgehen“, meint Annahita, „dann könnten wir getötet werden.“

Der Erstorientierungskurs ist nicht verpflichtend. Nur etwa zehn Prozent der Bewohner in der Aufnahmeeinrichtung absolvieren ihn, die Kapazitäten sollen aber ausgebaut werden. „Ich will lernen, um hier bleiben zu können“, sagt etwa Oumarou. Er sei Christ und werde in seiner Heimat, dem Niger, verfolgt. Wie viele andere hier, verbindet auch er große Hoffnungen mit dem Kurs. Und der Klasse merkt man das an. Still und aufmerksam hören sie Pawel Nadzieja zu. Kaum einer schaut auf sein Mobiltelefon - es sind Schüler, die sich jeder Sekundarschullehrer wünschen würde.

„Beim Thema Gesundheit fiel es den Männern sehr schwer, Körperteile gegenüber einer Frau zu benennen“

Gerade ist der Lehrgang zur Ernährungsberatung geworden. „Was isst du gerne“, fragt der Lehrer. „Burger, Pommes und Cola“, antwortet Annahita. „Das ist aber ungesund“, sagt Nadzieja, „du musst mehr Gemüse essen.“ Die Iranerin nickt. Es ist ein lockeres Gespräch ohne Kontroversen. Nicht immer läuft es so diskussionslos ab.

Lena Jaschob erzählt von einem Beispiel aus einer anderen Einrichtung: „Beim Thema Gesundheit fiel es den Männern sehr schwer, Körperteile gegenüber einer Frau zu benennen“, berichtet die Leiterin des Bungalow-Dorfes. Da mussten die Gruppe erst einmal nach Geschlechtern getrennt werden, um sich langsam heranzutasten. „Die Männer haben dann aber verstanden, dass es in Deutschland kein Recht auf einen männlichen Arzt gibt.“

Viel Redebedarf wenn es um Werte und das Zusammenleben in Deutschland geht

Auch wenn es etwa um Werte und das Zusammenleben in Deutschland geht, gibt es viel Redebedarf. „Wir können niemanden unsere Vorstellungen von Gemeinschaft verordnen“, sagt Pawel Nadzieja. Man müsse aber deutlich zeigen, worauf sich die Gesellschaft hier geeinigt hat. Etwa, dass in Deutschland Männer und Frauen gleichberechtigt sind und dass es keine Diskriminierung aufgrund von Religion oder Sexualität gibt. „Beim Glauben wird zwar immer viel diskutiert“, sagt der polnische Lehrer. „Aber am Ende würden eigentlich alle die Regeln akzeptieren.“ Und allein damit sei ja schon viel gewonnen.

Der kleine Zeiger der Uhr im Klassenraum zeigt auf die eins. Unterrichtsende. Noch bis Dezember werden die 20 Frauen und Männer jeden Wochentag zusammen kommen. Für heute allerdings ist die Dosis Deutschland verabreicht. Und das gilt sogar für das Essen. Gleich vor der Tür des Klassenraums wird das Mittag ausgeteilt: Es gibt Gyros mit Reis und Zaziki. (mz)

Um das Einkaufen zu üben, hat Lehrer Pawel Nadzieja bunte Schilder gebastelt. Beliebt ist bei seinen Schülern der Kasten Bier für 10,99 Euro plus 3,10 Euro Pfand.
Um das Einkaufen zu üben, hat Lehrer Pawel Nadzieja bunte Schilder gebastelt. Beliebt ist bei seinen Schülern der Kasten Bier für 10,99 Euro plus 3,10 Euro Pfand.
Uli Lücke