Sachsen-Anhalt Sachsen-Anhalt: Hotteln ohne Rückfahrschein
Hotteln/MZ. - "In Hotteln", sagt Maik Eckstein, "in Hotteln gibt es genau eine Verkaufsstelle." Dann macht der 36-Jährige eine kurze Pause und ergänzt: "Einen Zigarettenautomaten." Niedersächsische Backstein-Romantik, Reihenhaus-Idylle und viel Ruhe - das hat Hotteln im Landkreis Hildesheim zu bieten. "Das Kontrastprogramm zu Halle", sagt Ehefrau Anja und seufzt. Keine Freunde, kein Theater, keine Kneipenmeile.
Es ist nicht so, dass sich die Ecksteins Hotteln ausgesucht haben. Vielmehr wurden sie dazu gezwungen, weil Sachsen-Anhalt kaum junge Lehrer einstellt. Die Ecksteins sind Lehrer - für Deutsch und Englisch. Sie sind in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, haben nach der Wende hier Abitur gemacht und beide auf Lehramt an der Martin-Luther-Universität studiert.
Während er sein Referendariat absolvierte, hielt sie mit befristeten Teilzeitverträgen an privaten Schulen die Familie, zu der zwei Töchter von drei und zwölf Jahren gehören, über Wasser. Doch in diesem Frühjahr wurde die Lage zusehends dramatischer. "Meine Stelle konnte nicht noch einmal verlängert werden und für Maik gab es überhaupt kein Angebot", sagt Anja Eckstein. Beiden drohte die Arbeitslosigkeit.
Zur gleichen Zeit suchte Niedersachsen 2 000 neue Lehrer. "Wir wollten wirklich nicht weg", erinnert sich Anja Eckstein, "aber was sollten wir machen?" Rund 80 Prozent vom Westgehalt, damit hätten sie leben können - und mit einer Perspektive. Doch die gab es nicht. Im Gegenteil. Auf Anfrage teilte das sachsen-anhaltische Kultusministerium mit: "Angesichts des noch über mehrere Jahre andauernden Lehrkräfteüberhangs steht das Land Freigaben aufgeschlossen gegenüber." Soll heißen: Wer gehen mag, soll gehen, so lange er kein Mangelfach unterrichtet.
Die Ecksteins finden das empörend. "Da wird immer wieder mit Neueinstellungen geworben, doch deren Zahl deckt den tatsächlichen Bedarf an jungen Lehrern niemals ab." Die Kollegien im Land seien völlig überaltert. Dabei habe Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz (parteilos) sie und andere Referendare bei einer Festrede noch aufgefordert, Kinder zum Zwecke der Arbeitsplatzsicherung in die Welt zu setzen. Heute empfindet sie das als zynisch: "Andere Länder profitieren von dem Geld, das Sachsen-Anhalt in die Lehrer-Ausbildung investiert", sagt die 33-Jährige.
Eine Einschätzung, die auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilt. "Sachsen-Anhalt ist gerade dabei, den bundesweit entbrannten Wettbewerb um junge Lehrer bereits am Start aufzugeben", sagt GEW-Vize Eva Gerth. Ab dem Schuljahr 2013 / 14 bestehe die reale Gefahr, dass das Land die für einen ausgewogenen Altersdurchschnitt notwendigen Neueinstellungen nicht realisieren kann. "Dabei ist dann völlig gleichgültig, wie viel Geld für Neueinstellungen im Haushalt zur Verfügung steht", so Gerth, "das Land wird sich mit den Lehrern zufrieden geben müssen, die am Markt zu bekommen sind, und das werden deutlich zu wenige sein."
Die Ecksteins sitzen derweil in der Sonne. Draußen auf der Terrasse ihrer gemieteten Reihenhaushälfte. Drinnen stapeln sich noch die Umzugskartons, die Kinder sind bei den Großeltern. Noch sind Ferien. Doch schon bald geht es für die beiden Lehrer los: Beide haben ohne Mühe eine Anstellung gefunden - in Niedersachsen konnten sie quasi wählen, wohin sie gehen wollen. Denn alte Lehrer gibt es auch hier. "Wir setzen daher auf eine langfristige Sicherung des Lehrer-Nachwuchses", sagt die Sprecherin im dortigen Kultusministerium, Corinna Fischer. Deshalb sei die Zahl der Ausbildungsplätze an den Studienseminaren in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht worden, im kommenden Jahr wolle man weitere 250 Plätze schaffen. Weil das nicht reicht, wirbt man seit einigen Jahren unter dem Motto "Gute Lehrer braucht das Land" auch in anderen Ländern.
Kein Wunder also, dass Niedersachsen die Ecksteins mit Kusshand genommen hat. So wie viele Lehrer aus Sachsen-Anhalt inzwischen Stellen im Westen gefunden haben. Wie viel genau, weiß man nicht. Gezählt werden nur die, die ihm Rahmen eines bundesweiten Lehrertauschs gehen. Die Zahlen dürften nur ein Teil der Wahrheit sein. Aus Anja Ecksteins Studienjahrgang ist ein Drittel in Sachsen-Anhalt geblieben, aus dem Jahrgang ihre Mannes drei Jahre später waren es gerade zwei.
Vor sieben Jahren war Maik Eckstein mal mit der Sangerhäuser Band "Niemann" erfolgreich: "Im Osten" hieß die Hymne, die die Vorzüge der neuen Bundesländer besang. Heute ist das Eckstein fast ein bisschen peinlich. Ob sie wieder zurückgehen würden? Die Suche nach der Antwort zerreißt die beiden fast. Natürlich würden sie, aber die Gegenfrage lautet: Wer würde nach einer Verbeamtung schon zurückgehen?