Rätselhafter Mord Rätselhafter Mord: Wer erschoss den Ex-Grenzpolizisten Hans Plüschke?

Fulda - Es gibt nichts Neues im Fall Hans Plüschke, schon seit Jahren nicht mehr. Die Staatsanwaltschaft in Fulda, die seit 20 Jahren nach dem Mörder des früheren Oberjägers des Bundesgrenzschutzes sucht, hat keine neuen Spuren, eigentlich auch keine alten mehr. „Uns fehlen die Ansatzpunkte“, sagt ein Staatsanwalt, „alles, was es gab, ist inzwischen mehrfach untersucht worden.“
Der Fall des Hans Plüschke, der in der Nacht zum 15. März des Jahres 1998 auf der Bundesstraße 84 zwischen Hünfeld und Rasdorf erschossen wurde, bleibt so eines der großen Rätsel der deutsch-deutschen Geschichte - nicht wegen des Mordes an einem Taxifahrer. Sondern wegen seiner Vorgeschichte und der näheren Umstände des Todes des seinerzeit 59-jährigen Ex-Beamten.
Die beginnt 36 Jahre früher, im August 1962, mitten in einer Zeit, in der die DDR auch ihre Westgrenze nach und nach undurchlässig macht. Augenzeuge der Bauarbeiten an der Demarkationslinie ist der gelernte Maurer Hans Plüschke, im Rang eines Oberjägers eingesetzt zur Grenzkontrolle in Hessen.
Mysteriöser Mord an Hans Plüschke: Begegnung an Grenze zwischen Ost und West
Auf der anderen Seite steht in diesen Tagen der Grenztruppen-Hauptmann Rudi Arnstadt, ein Erfurter, 36 Jahre alt, aufgewachsen bei Pflegeeltern, mit 17 zur Wehrmacht, mit 19 aus der Gefangenschaft zurück. Dann FDJler, Malerlehre, schließlich Polizist und dann Grenzsoldat.
Der Kalte Krieg weht eisig über die Rhön, die Sowjetarmee fährt Patrouille, die US-Army ebenso. Anfang August führt Arnstadt den Befehl über eine Einheit, die die Grenzanlagen ausbauen soll.
Einer der Pioniere, die Gräben ausheben und Pfeiler setzten, sieht seine Chance gekommen. Mit einem Kettenschlepper überwindet er die wenigen Meter bis in den Westen. Arnstadts DDR-Grenzern bleibt nur, sich in Deckung zu werfen, um von dem Ungetüm nicht überfahren zu werden.
Treffen an der Grenze zwischen Ost und West: Vorfall ist für Rudi Arnstadt Katastrophe
Für die DDR ist der Vorfall blamabel, für Rudi Arnstadt eine Katastrophe. Der in einem kommunistischen Haushalt aufgewachsene Thüringer hatte bis dahin als Vorzeige-Offizier gegolten, dessen Einheit sich der Sache des Sozialismus verschrieben hat. Ein Irrtum. Nun muss Arnstadt Berichte schreiben und sein Versagen begründen.
Ist es der Druck, der auf dem Vater zweier Kinder lastet, der das Geschehen beeinflusst, das am 14. August beinahe einen Krieg ausbrechen lässt? Der ehemalige BGS-Mann Herbert Böckel, der seit Jahren nach der Wahrheit im Fall Arnstadt/Plüschke sucht, glaubt es jedenfalls.
Wieder ist Rudi Arnstadt direkt an der Grenze eingesetzt, wieder stehen gegenüber Kräfte des BGS. Diesmal aber wird aus der angespannten Situation plötzlich pures Dynamit, als sich drei BGS-Beamte der Grenze bis auf ein paar Metern nähern.
Mordfall Hans Plüschke: Arnstadt bricht nach Kopfschuss zusammen
„Halt, Sie befinden sich auf dem Gebiet der DDR, Sie sind festgenommen“, soll Arnstadt Böckels Forschungen zufolge gerufen haben. Der BGS-Hauptmann Meißner macht zur Antwort nur den Scheibenwischer: Er weiß, er ist auf BRD-Gebiet, da kann Arnstadt noch so sehr brüllen.
Der aber brüllt, er schießt, offenbar, um seine Aufforderung zu bekräftigen, dass Meißner sich ergeben solle. Hans Plüschke, der hinter seinem Vorgesetzten geht, sieht Meißner fallen.
Er sieht auch, dass Arnstadt ein zweites Mal anlegt. Plüschke schießt aus der Hüfte, wie Herbert Böckel aus den Akten weiß. Arnstadt bricht zusammen. Plüschkes Kugel hat ihn, das wird Jahre später noch wichtig werden in dieser rätselhaften deutsch-deutschen Geschichte, zwischen Nasenwurzel und rechtem Auge getroffen. Der Thüringer ist sofort tot.
Schießerei an deutscher Grenze: Als DDR-Grenzer und BGS-Männer aufeinander losgingen
Es folgt eine „wilde Schießerei“ (Böckel), bei der Ostgrenzer und BGS-Männer aufeinander schießen. Zum Glück, ohne zu treffen. Nach Angaben des BGS hätten eigene Kräfte vier Schüsse abgegeben, die DDR-Grenzer gegenüber etwa 30 bis 40.
Der NVA-Offizier Gerhard Elies, auf DDR-Seite Augenzeuge, spricht hingegen von „20 bis 30 Schüssen, die auf uns abgefeuert wurden“. Und er beharrt darauf, dass Arnstadt „seine Pistole in der Hand hielt, aber nicht schoss“.
Es ist Elies’ NVA-Genosse Karl-Heinz Rösner, der schließlich laut rufend ein Einstellen des Feuers befiehlt. Herbert Böckel, selbst in Deckung am Rande eines Getreidefeldes, sieht den Bereitschaftszug des BGS aus dem nahegelegenen Hünfeld eintreffen.
Rätselhafter Mord an Grenze: Verfahren gegen Hans Plüschke eingestellt
Die Amerikaner sind informiert, auf der Gegenseite die Sowjetarmee ebenso. Der bis dahin schon schwerste Grenzzwischenfall zwischen DDR und BRD droht, jeden Augenblick zu eskalieren - eine Entwicklung, die DDR-Major Rössner und ein BGS-Zugführer mit einem eilig verabredeten Waffenstillstand abwenden.
Gekämpft wird in den folgenden Jahren um die Deutungshoheit über das Geschehen vom 14. August. Die Staatsanwaltschaft im hessischen Fulda leitet ein Ermittlungsverfahren gegen Plüschke ein, das aber schon wenig später eingestellt wird, weil „die Angriffshandlung des sowjetzonalen Grenztruppenoffiziers“ sich „ganz eindeutig als rechtswidriger versuchter Totschlag“ darstelle.
Plüschke sei berechtigt gewesen, „den seinem Streifenführer drohenden Angriff abzuwehren“. Die DDR-Seite hingegen überträgt der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin die Ermittlungen. Deren Ergebnisse bestätigen die DDR-Version: Arnstadt habe BGS-Angehörige auf eine Grenzverletzung hingewiesen, diese aber hätten die Grenze danach bewusst noch einmal verletzt.
Mordfall an Grenze zwischen DDR und BRD: DDR dichtet Vorfall zu Märtyrersage um
Nachdem der Hauptmann und sein Begleitposten daraufhin Warnschüsse abgegeben hätten, seien sie von den BGS-Angehörigen gezielt beschossen worden.
Horst Sindermann, Propagandachef der SED, tritt selbst im DDR-Fernsehen auf, um Arnstadts Tod zu einer Märtyrersaga umzudichten: BGS-Beamte seien betrunken und in Kompaniestärke „aufmarschiert“ und auf DDR-Gebiet vorgedrungen. Als Rudi Arnstadt die Grenze habe verteidigen wollen, sei er von den „Mordschützen der Bonner Ultras feige und vorsätzlich ermordet“ worden.
Aus dem Toten wird feinster Propagandastoff. In DDR-Zeitungen klagt Arnstadts Mutter an „diese Banditen haben meinen Sohn ermordet“. Im Städtchen Geisa findet ein Staatsbegräbnis statt, Arnstadt bekommt postum die Verdienstmedaille der DDR verliehen.
Hans Plüschke erschießt Rudi Arnstadt an deutscher Grenze und wird Schatten der Vergangenheit nicht los
Die DDR-Regierung protestiert in Bonn gegen den „Anschlag auf die Staatsgrenze“ und benennt Schulen und Straßen nach Arnstadt. Am Tatort bauen Soldaten eine Schrifttafel auf: „An dieser Stelle wurde der Hauptmann Rudi Arnstadt … von Söldnern des westdeutschen Militarismus ermordet. Seine Mörder werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen“.
In der DDR weiß zu diesem Zeitpunkt niemand, wer geschossen hat. Unter Verdacht steht ein BGS-Mann namens Koch, nicht aber Hans Plüschke. Der wird im Westen dennoch erst zum Innendienst verurteilt, dann aussortiert. Plüschke bleibt schließlich nichts anderes übrig, als den Dienst zu quittieren und sich als Taxifahrer selbständig zu machen.
Den Schatten der Vergangenheit aber wird Plüschke nicht los. Zwei Jahrzehnte lang glaubt er, in der DDR zu 25 Jahren Haft verurteilt worden zu sein.
Mysteriöser Mord an Hans Plüschke: Wurde ihm das eigene Sicherheitsemfpinden zum Verhängnis?
Als die Mauer fällt, schickt er einen Anwalt, der herausbekommen soll, ob er diese DDR-Strafe vielleicht sogar noch verbüßen müsse. Doch es gibt sie gar nicht.
Hans Plüschke fühlt sich nun so sicher, dass er von seiner Tatbeteiligung erzählt. Arnstadts ehemalige Genossen sind ab August 1997 im Bilde, als Hans Plüschke einem Fernsehteam Rede und Antwort steht.
Sieben Monate später wird der 59-Jährige nach einer samstäglichen Nachtschicht tot an der Bundesstraße 84 gefunden, ein ganzes Stück weg von seinem Taxi, aus dem nicht einmal die Brieftasche mit den Tageseinnahmen mitgenommen worden ist.
Hans Plüschke wurde ins Gesicht geschossen. Die Kugel traf ihn genau zwischen Nasenwurzel und rechtem Auge, an dieselbe Stelle wie 36 Jahre zuvor Rudi Arnstadt. Spuren des Mörders oder Hinweise auf seine Motive gibt es abgesehen davon keine. (mz)