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Nutrias in Städten Sachsen-Anhalts Nutrias in Städten Sachsen-Anhalts: Gefährlicher Schädling oder sehenswerter Bestandteil des Wildlebens?

Von Steffen Könau 01.07.2014, 18:35
Nutrias haben sich vielerorts in Sachsen-Anhalt angesiedelt - so auch an der Saale in Halle.
Nutrias haben sich vielerorts in Sachsen-Anhalt angesiedelt - so auch an der Saale in Halle. Jens Schlüter Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Sonntags ist Großfütterung. Es gibt Brot und Früchte, Gemüse und spätestens am Nachmittag wird sogar Wurst gereicht. Die sieben, acht oder vielleicht auch zwölf großen Pelzwesen, die sich am Rande des Naherholungsgebietes Peißnitzinsel in Halle eingefunden haben, sind ebenso zutraulich wie unersättlich. Noch einen Toast, noch ein Ei, noch etwas Banane. Sie schnappen fasziniert staunenden Kindern das Fressen aus der Hand, erschrecken neugierige ältere Damen, die ein paar Kekse mitgebracht haben, indem sie sich aufrichten. Upps, zuckt die Frau zurück. „Die sind ja riesig!“

Große Populationen haben sich angesiedelt

Und wie viele es inzwischen geworden sind. Nicht nur in Halle, sondern auch in Hettstedt, Weißenfels und Jessen haben sich zum Teil große Populationen der zur Familie der Biberratten gehörenden Tiere angesiedelt. Zwischen 45 und 65 Zentimeter groß und mit einem Schwanz, der noch einmal bis zu einem halben Meter lang werden kann, sind die gelb-grau bis dunkelbraunen Nager eigentlich Pflanzenfresser, bei entsprechendem Angebot aber auch bereit, alles andere zu fressen, was sie finden können.

Ebenso wenig wählerisch sind Nutrias bei der Wahl ihres Lebensraumes: In Halle siedeln sie an der Saale, ohne sich an Spaziergängern und Freizeitfußballern zu stören. In Hettstedt befindet sich ihre Kolonie sogar im Zentrum der Stadt - was Horst Cunäus vom Nutriaverein Hettstedt begeistert, der Stadtverwaltung allerdings als Ursache einer Rattenplage gilt. Der sollte eigentlich mit einem Fütterungsverbot begegnet werden, doch im letzten Winter begannen Horst Cunäus und sein Verein erneut, die Nutria-Gruppe am Doktorsteg zu füttern und der beigelegt geglaubte Streit brandete mit voller Kraft erneut auf.

Wie die Tiere in Deutschland heimisch wurden, lesen Sie auf Seite 2.

Ein Sonderfall. Nirgendwo sonst in Mitteldeutschland tobt ein vergleichbarer Krieg um die Großnager, mit deren Zucht um 1880 im Elsass begonnen worden war. 1934 hatte der hessische Geflügelzüchter Rolf Haag erstmals einige Exemplare in Freiheit gesetzt, um „die heimische Fauna zu bereichern“. Das Experiment scheiterte, Nutrias blieben Zuchttiere.

Nach Ende des Krieges existierten deutschlandweit hunderte Farmen, die rund 100 000 Felle jährlich produzierten. Freilebende Tiere gab es damals im Osten Deutschlands noch nicht. Allerdings wurde die DDR bis Anfang der 70er Jahre zu einem Zuchtparadies für die mit dem Stachelschwein verwandten Tiere, die teure Pelzimporte ersparten und zudem noch Fleisch zu liefern versprachen. Mehr als 2 700 Nutria-Farmen gab es 1949, 1952 waren es sogar 7 500. Bis Mitte der 70er Jahre gelang es mindestens 1 200 der daheim in Brasilien Coypu genannten Tiere, aus ihren Gehegen auszubrechen, wie Christoph Stubbe vom Institut für Forstschutz und Jagdwesen in Tharandt ermittelt hat. Die Tiere bildeten Kolonien in Freiheit.

Pelzige Pest aus Nordamerika

Doch während die aus Nordamerika importierten Waschbären sich zu einer pelzigen Pest entwickelt haben, die in Häuser eindringt, Müll durchwühlt und Infektionskrankheiten überträgt, leben die Sumpfbiber eher unauffällig. Der Stadtverwaltung Bitterfeld-Wolfen sind weder aus dem Stadtgebiet noch von der Goitzsche Nutriavorkommen bekannt, die erwähnenswert wären, sagt Sprecherin Marina Jank. Auch Anke Fey aus dem Rathaus Weißenfels sieht kein Nutriaproblem. Drago Bock von der Stadt Halle verweist darauf, dass es keine gesicherten Zahlen zum Bestand gebe. „Alles, was bisher bekannt geworden ist, sind Schätzungen“, sagt er, „aber besonders nach dem Hochwasser ist der Bestand erheblich zurückgegangen.“

Langfristig aber zeigt der Trend nach oben. Daran lassen Daten keinen Zweifel, die die Münchner Landschaftsökologin Caroline Biela erhoben hat. Zwar war die Zahl freilebender Nutrias im Osten Deutschlands danach bereits in den 80er Jahren höher als im Westen. Aber nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft erfolgte ein nochmaliger starker Anstieg, der „vermutlich auf Freilassungen von unrentablen Beständen zurückzuführen ist“, wie Caroline Biela sagt. Aufgrund der hohen Geburtenrate - Nutrias pflanzen sich zweimal im Jahr fort und bringen jeweils zwischen vier und sechs Junge zur Welt - seien in Sachsen-Anhalt mittlerweile „nahezu alle geeigneten Lebensräume bewohnt“.

Hintergründe zu den Nutria-Kolonien im Land lesen Sie auf Seite 3.

Befürchtungen etwa der Unteren Naturschutzbehörde in Halle, die zusehends größer werdenden Kolonien könnten Uferbereiche unterhöhlen und Bäume und Sträucher kahl nagen, weist nicht nur Nutria-Fan Horst Cunäus entschieden zurück. „Ich habe niemals gesehen, dass Nutrias mit ihren eigenen Händen im Erdreich buddeln“, versichert der Mann, der an manchen Tagen fünf bis sechs Stunden bei seinen Lieblingen Goldie, Maxi und Aphrodite an der Wipper ist. Zudem nage ein Nutria auch niemals an einem Holz, „das wesentlich dicker als mein Daumen ist“. Auch Katrin Fräbel vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-Anhalt weiß von keinem Gewässer in ihrem Zuständigkeitsbereich, an dem Probleme mit Nutrias ein Thema sind. „Wir haben keine Schäden zu verzeichnen.“

Fremde Tierarten werden von Wissenschaftlern als Neozoen bezeichnet. Das sind Tiere, die nach dem Jahr 1492, in dem Kolumbus Amerika entdeckte, in Gebiete außerhalb ihrer Heimat gebracht wurden und dort über längere Zeit wild leben. Derzeit sind in Deutschland etwa 1 500 dieser Arten registriert - Tendenz steigend. Ragnar Kinzelbach, der am Institut für Biodiversitätsforschung der Universität Rostock eine Neozoen-Datenbank führt, schätzt, dass sich hierzulande bislang 200 neue Arten dauerhaft niedergelassen und stabile Bestände gebildet haben.

Dazu zählt die aus Florida stammende Rotwangen-Schildkröte, die im Gegensatz zu Waschbär und Nutria eher zufällig in freie Wildbahn geriet. Erst war das Tier ein Verkaufsschlager in Zoogeschäften, dann setzten viele Besitzer ihre Schildkröten in Seen aus, wo sie heimisch wurden.

Wissenschaftler wie der Tropenmediziner Rüdiger Disko warnen unterdessen vor einem infolge der Globalisierung stetig anwachsenden Zustrom fremder Tierarten, die sich in Deutschland ansiedeln und einheimische Arten verdrängen könnten. „Der Mensch bringt das räumliche und zeitliche Gefüge der Arten durcheinander“, sagt er.

Nur für den „relativ begrenzten Raum an den Fütterungsstandorten“, wie Drago Bock sagt, sieht das anders aus. „Dort sind durch die Konzentration der Tiere die Schäden umso deutlicher erkennbar.“ Glattgetreten und festgetrampelt zeigen sich die Futterstellen an der halleschen Kotgrabenbrücke und dem Ufer des Mühlgrabens. Dort wächst kein Gras mehr. Und auch sonst nichts. Der natürliche Regelmechanismus, mit dem Nutrias es über Jahrzehnte schafften, ihren Bestand auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Umweltressourcen selbst zu regulieren, ist außer Kraft gesetzt.

Tägliche Fütterung schafft Überlebensmöglichkeiten

Die tägliche Fütterung schafft Überlebensmöglichkeiten auch für die Tiere, die unter normalen Umständen keine hätten. „So werden auch kranke und schwache Tiere durch den Winter gebracht“, sagt Drago Bock. Kalte Winter, die in früheren Zeiten immer wieder für das Aussterben ganzer Kolonien sorgten, werden seltener. Und da die Tiere keine natürlichen Feinde fürchten müssten, können sie sich ungehindert vermehren und ausbreiten. „Sie erschließen dabei nach und nach das Flusssystem der Saale und ihrer Nebenarme.“

Eine Plage? Nein, keine Plage. Aber die Ausbreitung der nach offizieller Definition mittlerweile als eingebürgerte Art geltenden Nutrias hat zumindest symbolische Folgen. In Halle findet eine sogenannte Bejagung durch den Stadtjäger statt, in Weißenfels wird auf Schildern an der Saale auf das bestehende Fütterungsverbot hingewiesen. Zumindest am Wochenende aber stört das niemanden: Auch dort gibt es Brot und Früchte, Gemüse und sogar ein Stück Schokolade.