Nachruf Nachruf: Der Harzer - ein Sachse
HARSLEBEN/MZ. - Ja, dieser von manchen Schmelzkäse-Fans als "Stinker" geschmähte Sauermilch-Käse mit lieblichem Geschmack und würzigem Geruch. Ausgerechnet dieser Harzer Käse kommt nicht mehr aus dem Harz.
Gisela Maeße kennt sich aus mit dem Harzer. Sie war die Marketingchefin des letzten großen echten Harzer-Käse-Produzenten: Otto Rusack in Harsleben bei Halberstadt. Man könnte also mit Frau Maeße über Gewürzmischungen fachsimpeln oder über die Gretchenfrage der Harzer-Liebhaber schlechthin: Darf er innen noch weiß und quarkig sein oder ist er nur durch auch gut? "Ich erzähle Ihnen alles über Fisch, aber Käse - das ist Geschichte", sagt sie am Telefon.
Kein Termin, kein Hintergrundgespräch über Rusack und der hundertjährigen Tradition, am Nordrand des Gebirges Harzer Käse herzustellen. Denn vor genau zwei Jahren endete die Harslebener Firmengeschichte - und damit die Produktion von Harzer im Harz. Einzige Ausnahme ist die kleine Käserei Becker in Quenstedt (Mansfeld-Südharz), die ihre Produkte aber vor allem auf Wochenmärkten im Direktvertrieb anbietet. Was heute in den Supermärkten an Harzer Käse zu kaufen ist, kommt zu mindestens 75 Prozent aus Sachsen.
Genauer: Aus Leppersdorf vor den Toren Dresdens. Leppersdorf geriet vor rund einem Jahr erstmals ins überregionale Bewusstsein, weil dort Milchbauern tagelang Deutschlands größte Molkerei blockierten. Auf diese Weise wollten sie den Molkerei- und Milch-Multi Theo Müller zwingen, ihnen endlich anständige Preise zu zahlen. Theo Müller - das klingt nach Allgäuer Gemütlichkeit, doch Müller ist in seiner Branche das, was Vattenfall im ostdeutschen Energiemarkt ist: ein Quasi-Monopolist. Müller diktiert nicht nur den Milchbauern die Preise, er ist auch nach Einschätzung des Bundeskartellamtes der einzige Produzent von Sauermilch-Quark, dem Ausgangsprodukt des Harzer Käses. "In den 1990er Jahren wollte Müller nicht mehr nur den Quark liefern, er hatte auch Gefallen am Käse selber gefunden", sagt Thomas Lange, Geschäftsführer der Agrarmarketinggesellschaft Sachsen-Anhalt. Müller begann, die Käse-Produzenten im Harz aufzukaufen.
Er startete 1998 mit der Käserei August Loose in Vienenburg (Kreis Goslar). 2002 verleibte sich Loose, nun eine 100-prozentige Tochter von Müller, die letzte nennenswerte Käserei im niedersächsischen Teil des Harzes, die Firma Rehkopf in Lamspringe, ein. 2003 folgte dann im Ostharz Rusack. "Die Eigentümer haben lange überlegt, doch am Ende siegte wohl die Erkenntnis, dass Müller sie hätte kaputt machen können, also wurde verkauft", weiß Lange. Zunächst geht die Produktion in Harsleben weiter, wohin auch die von Vienenburg verlagert wird. Doch von Dauer sollte das nicht sein: 2007 packt Müller die Koffer von Rusack und Loose und zieht nach Sachsen, in eine für 400 Millionen Euro errichtete Riesen-Molkerei seiner Tochter Sachsen-Milch. Das bei einer solchen Summe der Gedanke nahe liegt, auch eine Harzer-Käse-Produktionslinie mitzubauen, ist unternehmerisch verständlich.
Für den Harz bedeutete es das Ende einer regionalen Spezialität. "Müller hat rigoros gesagt, was interessiert mich der Harz", erinnert sich Lange. Und: "Hätten wir geahnt, das Müller seine Stellung ausnutzt, hätten wir den Namen Harzer Käse schützen lassen." Doch das wurde versäumt. Hätte der Harzer unter dem Schutz der EU gestanden, wie 700 andere regionale Spezialitäten in Europa auch, Müller dürfte heute keinen Harzer in Sachsen produzieren. Thomas Lange schätzt den Anteil, den Müllers Käse-Töchter an der Harzer-Produktion haben, auf mindestens 75 Prozent. Drei Viertel einer Käsespezialität, von der nach dem 30-jährigen Krieg 90 Prozent im Harz hergestellt wurden.
Müllers Appetit auf Harzer Käse war damit aber noch nicht gestillt: Einst wurde auch auf der Südseite des Gebirges, in Breitungen, Harzer Käse produziert. Doch nachdem die Firma 1991 von der Poelmeyer Gruppe übernommen wurde, wurde die Produktion des "Breitunger" 1999 nach Wohlmirsleben im Burgenlandkreis, dem südlichsten Zipfel Sachsen-Anhalts verlegt, wo Poelmeyer bereits die Marke "Harzinger" produzierte. Ein Harzer war der Harzer da schon nicht mehr, aber immerhin kam er noch aus Sachsen-Anhalt. Doch das Ende drohte: Müller wollte kaufen, im Dezember 2007 waren er und die Söhne Bernd und Kai des Firmengründers Hans-Jürgen Poelmeyer handelseinig. Beteuerungen, man wolle den Standort halten, begegnete man nicht nur in der Region skeptisch. Auch dem Bundeskartellamt schwante Übles. Im Juli 2008 untersagte es den Kauf mit der Begründung, dass damit "die Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung von Müller... auf dem Markt für... Sauermilchkäse" zu erwarten sei. Es folgen 58 Seiten Begründung.
Der Rest ist Schweigen: Die Müller-Group reagierte nicht auf eine umfangreiche Anfrage zum Thema Harzer Käse. Poelmeyer zeigen sich aufgrund "schlechter Erfahrungen" pressescheu, baten daher um schriftliche Fragen. Antworten gab es auch hier keine. Und dort, wo der letzte echte Harzer vom Band lief - in Harsleben - werden heute Kaviarcreme und Sardellenröllchen produziert. 350 Kilometer vom nächsten Meer entfernt - tröstlich ist das nur für Fischfans.